Das Blut der Lilie
zu erlauben. Vielleicht könnte ich
ihn besuchen. Vielleicht würde es mir gelingen, den Schaden wieder gutzumachen,
den mein Spionieren und meine Lügen angerichtet hatten. Vielleicht würde ich es
sogar schaffen, ihn herauszuholen.
Von derlei Bestrebungen hatte man bereits gehört. Der
Gefängnisaufseher war ständig auf der Hut vor Komplotten, und brüstete sich,
mehr als einen Versuch vereitelt zu haben, die Königin und ihre Kinder zu
befreien. Der Aufseher war vorsichtig, die Garden wachsam. Aber jeder hatte
seinen Preis.
Ich nahm eine Münze und drehte sie zwischen den
Fingern. Auf einer Seite war der Kopf der Königs, auf der anderen seine Krone.
Ich warf sie in die Luft. Fing sie auf. Schloss die Finger darum.
Kopf oder Krone. Bleiben oder gehen. Wiedergutmachung
oder Freiheit, sagte ich mir und tat so, als hätte ich eine Wahl.
Ich hole tief Luft. Um mir Mut zu machen. Erneut schöpfe ich
Hoffnung. Obwohl ich es besser weiÃ.
Weil Alex zwanzig Louis dâor hatte. Und die hätten genügen
können, um einen Totengräber zu bestechen, und im Schutz der Nacht einen
kleinen leblosen Körper in den Temple zu schaffen. Um ein paar Wachen dazu zu
bringen, nicht so genau hinzusehen. Um ihn zu befreien.
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29. Mai 1795
Der Herzog von Orléans stieg ein paar Wochen nach der
Königin auf die Guillotine, im November 1793.
Sein ältester Sohn, der Herzog von Chartres, war
gemeinsam mit General Dumouriez von der Revolutionsarmee zu den Royalisten
übergelaufen. Der Herzog von Orléans verurteilte seinen Sohn öffentlich, aber
dann wurde ein Briefwechsel zwischen den beiden gefunden, der bezeugte, dass
die Verurteilung eine Täuschung gewesen war. Er wurde beschuldigt, ein Komplize
von Chartre und Dumouriez und zu sein und versucht zu haben, die
Revolutionsregierung zu stürzen.
Ich verlieà meine Bleibe über seinen Gemächern und
machte mich auf den Weg, ihn in seiner Zelle zu besuchen. Inzwischen spielte
ich wieder für Geld in den Höfen des Palais und kam jede Nacht, nachdem ich
fertig war, in diese Kammer zurück.
Der Herzog von Orléans war ein paar Monate zuvor
verhaftet worden. Ich hatte ihn nicht besucht, weil ich ihn nicht sehen wollte,
aber dann folgten der Prozess und das Urteil, und ich wusste, dass er bald auf
die Guillotine geschickt würde, also wollte ich noch ein paar Antworten von
ihm, bevor es zu spät war.
Ah, ein kleiner Spatz kommt zu Besuch, sagte er, als er
mich sah. Warum bist du hier? Warum bist du nicht ausgeflogen? Für mich ist es
vorbei. Du bist frei.
Sie haben gehofft, König zu werden, sagte ich.
Er zog eine Augenbraue hoch. Vielleicht bist du doch
nicht so dumm, wie ich dachte, erwiderte er.
Sie haben mit den anderen in der Nationalversammlung
für den Tod des Königs gestimmt, weil Sie an seiner statt regieren wollten.
Ich tat es, weil ich keine andere Wahl hatte. Ich war
der Cousin des Königs und stand als solcher immer unter Verdacht. Ich musste
meine Loyalität der Revolution gegenüber beweisen. Nicht für den Tod des Königs
zu votieren, hätte bedeutet, für meinen eigenen Tod zu stimmen.
Sie sagten, Sie wollten nicht an die Macht? Ich glaube
Ihnen nicht.
Natürlich wollte ich das. Ich hatte gehofft, Frankreich
gut und weise regieren zu können. Ich hatte gehofft, Louis Charles zu befreien
und als Regent für ihn zu dienen, nach dem Tod seines Vaters. Aber dazu kommt
es jetzt nicht mehr. Frankreich hat die Könige abgeschafft, allerdings nicht
die Tyrannen, fürchte ich.
Sie haben den Mob bezahlt, Versailles zu erobern. Und
letzten September haben Sie ihn erneut bezahlt, sagte ich. Die Gitterstangen
zwischen uns machten mich kühn.
Ach, wirklich? Ich muss viel mächtiger und weitaus
reicher sein, als ich dachte.
Machen Sie sich nicht lustig über mich. Was ist mit
Louis Charles? Was war er für Sie? Ein bloÃes Hindernis für Ihre Ambitionen?
Nein. Eher ein Stolperstein. Wie für dich.
Bei seinen Worten stockte ich, allerdings nur einen
Moment. Er ist jetzt Waise, sagte ich. Ein armes, unglückliches Kind. Sie haben
für seine Inhaftierung gestimmt. Für seine Misshandlung durch Simon. Das haben
Sie getan und ich habe Ihnen dabei geholfen. Durch mein Spionieren. Durch all
die Informationen, die ich Ihnen gab. Sie sind ein Teufel!
Die schwarzen Augen des Herzogs blitzten vor Zorn. Ich
frage dich, kleiner Spatz, wer
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