Das Blut der Lilie
lieà sein einziges Kind, von Dieben verhöhnt, an
einem Kreuz sterben. War das der Teufel? Nein. Nenn mich den Teufel, wenn du
willst. Ich halte das für eine Ehre.
Eine Spinne lief über den Boden. Der Herzog von Orléans
beugte sich hinab, hob sie auf, setzte sie an die Gitterstäbe seines Fensters
und sah zu, wie sie in die Freiheit hinauskroch.
Warum halten sie ihn immer noch fest? Warum lassen sie
ihn nicht frei? Was kann er ihnen denn tun? Er ist doch nur ein kleiner Junge,
fragte ich.
Er ist viel mehr als ein kleiner Junge. Das weiÃt du
genau. Robespierre wird ihn nie freilassen. Er wird in diesem Gefängnis
sterben, antwortete der Herzog.
Aber neben Robespierre gibt es noch andere. Mächtige
Männer, groÃe Männer. Danton. Desmoulins. Sie könnten ihm helfen.
Sie werden nichts für ihn tun. Genauso wie sie jetzt
für mich nichts tun. Weil es ihnen keinen Vorteil verschafft. Hast du denn gar
nichts gelernt während deiner Zeit bei mir? WeiÃt du immer noch nicht, dass
groÃe Männer selten moralisch handeln?
Aber ich wollte nicht auf ihn hören. Wie eine
Wahnsinnige wollte ich nicht aufgeben. Es muss doch noch andere geben, die
Komplotte schmieden, wie Sie es getan haben, andere, die ihn in Freiheit sehen
möchten, sagte ich in der Hoffnung, der Herzog würde mir von diesen Menschen
berichten, falls es sie gäbe.
Aber er schwieg. Stattdessen streifte er seine Ringe
ab, steckte seinen Arm durch die Gitterstäbe und lieà sie in meine Hand fallen.
Damit und einschlieÃlich dem, was du mir gestohlen hast â oh ja, ich weiÃ
Bescheid â, kannst du deine Flucht aus Paris bezahlen, sagte er.
Dann ging er zu einem kleinen Holztisch in der Ecke
seiner Zelle, schrieb schnell eine Nachricht, versiegelte sie und reichte sie
mir.
Was ist das?, fragte ich ihn.
Ein Empfehlungsbrief. Ursprünglich war er für die
Pariser Bühne gedacht, aber hier darfst du nicht bleiben. Geh nach London. In
die Drury Lane. Ãbergib ihn einem Mann im Garrick-Theatre. Er ist ein Freund
von mir. Er wird dir helfen.
Das werde ich nicht!, rief ich. Ich habe Geld von der
Königin â zwanzig Louis dâor â und jetzt diese Ringe von Ihnen. Ich werde ihn
herausholen, wenn kein anderer es tut. Dann eben ich selbst!
Daraufhin sah er mich mit einem Blick an, den ich nicht
von ihm kannte â ein Blick voll unglaublicher Traurigkeit. Vergiss den Jungen,
kleiner Spatz, sagte er. Es gibt nichts, was du für ihn tun kannst. Du müsstest
dich gegen die ganze Welt stellen, um ihn zu befreien, und die Welt gewinnt
immer.
Kurz darauf holten sie ihn. Umjohlt von der blutrünstigen
Menge wurde er auf einem offenem Karren zum Schafott gefahren. Er gab sich
tapfer, bis zum bitteren Ende. Er schenkte ihnen nichts. Keine Grimasse. Keine
Träne. Kein Wort.
Ich weinte, als er starb.
Wie ein Hund, der um seinen Herren heult, der ihn geschlagen
hat.
30. Mai 1795
Ich versuchte wegzulaufen. Ein Mal. Im Juni 1794. Einige Monate, nachdem der
Herzog Orléans hingerichtet worden war.
Ich war verzweifelt, weil ich versagt hatte. Woche um
Woche hatte ich fieberhaft an einem Plan gearbeitet, um Louis Charles aus dem
Gefängnis zu schmuggeln.
Ich hatte einen alten, zerlumpten Totengräber gefunden,
der tun wollte, worum ich ihn gebeten hatte â darum, die Leiche eines Jungen,
noch frisch, nicht modernd, ins Haus der Gefängniswäscherin zu bringen. Die
Wäscherin und ihre Tochter hatte ich überredet, die Leiche in einen groÃen
Weidenkorb zu legen, sie mit frischen Laken zuzudecken, ins Innere des
Gefängnisses zu schaffen und in der Wäschekammer zu verstecken.
Danach müsste ich nur noch Louis Charlesâ Wächter dazu
bringen, die Leiche von der Wäschekammer in die Zelle zu schaffen und das tote
Kind gegen das lebendige auszutauschen. Dann sollte der Wächter Louis Charles
in die Spülküche bringen und ihn in einem anderen Weidenkorb mit schmutziger
Wäsche verstecken. Die Wäscherin und ihre Tochter würden am nächsten Morgen den
Korb abholen, ihn auf ihren Karren hieven und nach Hause fahren. Niemand würde
ihnen Fragen stellen. Sie waren bekannt und ihnen wurde vertraut. Ich würde auf
sie warten. Ich würde ihn waschen, ihm frische Kleider anziehen und sein Haar
schwarz färben. Wir würden den Einbruch der Nacht abwarten und uns dann aus der
Stadt hinausschleichen. Die Tore sind verschlossen nach
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