Das Blut der Lilie
Kunstwerke.«
Charon sagt: »Sacré-CÅur ist auch toll.«
Jules sagt: »Du musst die Place de Vosges besuchen.«
»Vielleicht gehst du ja gern shoppen«, sagt Khadija. »Geh ins
Bon Marché. Da gibtâs âne Menge Schmuck.«
Ich muss lachen. Es klingt traurig und verrückt zugleich.
»Danke«, antworte ich, »das werde ich machen. Schön, euch alle kennengelernt zu
haben. Tut mir leid wegen der grässlichen Szene eben.«
Ich will gehen, aber Virgil packt mich am Arm. »Kommt nicht
infrage. Du kommst mit uns. Los, gehen wir.« Ich sehe ihm an, dass er sich
Sorgen macht.
Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. »Schon okay. Wirklich.
Mir gehtâs schon wieder besser. Ich ⦠ich hab einfach zu viel Kaffee
getrunken.«
Ich versuche, mich loszumachen, aber er gibt meinen Arm nicht
her. »Ich kann nicht mit dir kommen, weil ich einen Auftritt habe, den ich
nicht absagen kann. Ich brauche das Geld. Die anderen auch«, sagt er und deutet
mit dem Daumen auf seine Freunde. »Also kommst du mit mir.«
»Nein.«
Er schüttelt den Kopf. Flucht. Seine schönen Augen blitzen
vor Zorn. Er beugt sich ganz nah zu mir und sagt: »Soll ich dich hochheben und
wegschleppen? Genau das werde ich nämlich tun.«
Ich erwidere nichts, versuche aber nicht mehr, mich
loszureiÃen.
Constantin sieht zuerst mich, dann Virgil an. »Gehen wir
jetzt?«, fragt er unsicher.
Virgil wischt mit dem Ãrmel seines Kapuzenshirts mein Gesicht
ab. »Ja, Tino«, sagt er. »Wir gehen.«
Fegefeuer
Â
Ich sah wohl tausend,
Welche einst vom Himmel geregnet,
Bei dem Tor, die zornig sagten:
»Wer ist der eine denn, der ohne Tod
Das Reich des toten Volkes so
durchwandert?«
Dante
  62 Â
»Also, wo ist diese Party denn überhaupt?«, fragt Jules, als
wir zur Métro gehen.
»Am Strand«, antwortet Virgil.
Charon stöhnt auf. Constantin flucht.
»O bitte! Doch nicht dort«, sagt Khadija. »Ich hasse diesen
Ort.«
Ich sage anfangs nichts. Ich kann nicht. Sondern stolpere nur
völlig ausgelaugt neben ihnen her. Aber dann fällt mir ein, dass Virgil mir
einmal vom Strand erzählt hat. Er sagte, es sei eine Art Partytreff. In den
Katakomben.
»Aber die schlieÃen doch um vier Uhr nachmittags. Das stand
auf dem Schild«, sage ich matt.
»Was schlieÃt um vier?«, fragt Virgil.
»Die Katakomben. Ich hab eine Tour mitgemacht.«
»Ja, ich erinnere mich«, entgegnet er. »Das war die
offizielle Tour. Heute Nacht machst du die inoffizielle.«
»Ich will nicht in die Kanalisation hinabsteigen«, sage ich.
»Warum? Hast du Angst, dir was Schlimmes einzufangen?«, fragt
er bissig. »Keine Sorge. Wir gehen anders rein.«
Wir kommen zur Métro-Station und nehmen eine Bahn nach
Denfert-Rochereau. Wir steigen aus, überqueren den Bahnsteig und gehen zum
anderen Ende. Ich trotte hinter dem Rest her, immer noch ziemlich neben der
Spur, und drücke meinen Gitarrenkoffer an mich. Wir warten. Nur ein paar
Sekunden. Ein Zug fährt ein. Ich will einsteigen, aber Virgil hält mich zurück.
Der Zug fährt wieder ab.
»Bist du bereit?«, fragt er mich.
»Ãhm, ja, aber der Zug ist gerade abgefahren.«
Als Nächstes sehe ich, dass er, Tino und die Ãbrigen auf die Gleise
hinunterspringen.
»Komm mit«, sagt er und greift nach meiner Hand. »Wir haben
vier Minuten.«
»Bevor was?«
»Bevor wir zermatscht werden.«
Ich gebe ihm meine Gitarre und springe hinunter. Es ist
gefährlich. Ich sollte Angst haben. Ich hätte auch welche, wenn mir nicht alles
egal wäre.
»Ich trage die Gitarren. Bleib nah bei mir und halt dich
davon fern«, sagt er und deutet auf die Stromschiene. Dann rennt er los, locker
und leicht. Er trägt beide Instrumente, seines und meines.
Ich folge ihm. Vor uns kann ich die anderen hören. Ich höre
ihre Schritte, wie sie platschend durch dunkle Pfützen laufen.
»Virgil! Hier gibtâs Gleisarbeiten. Es sind Steinbrocken
zwischen den Gleisen«, ruft Jules nach hinten.
»Lauf weiter!«, ruft Virgil ihm zu.
»Wohin gehen wir?«, rufe ich.
»Weiter vorn ist ein Bogengang. Seitlich vom Tunnel. Das ist
der Eingang.«
Dann spüre ich etwas â einen Hauch warmer, abgestandener Luft
auf meinem Gesicht.
»Virgil!«, ruft Jules.
»Was?«
»Da kommt
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