Das Blut der Lilie
gestern nicht nach Hause fliegen? Was machst du
hier? Bist du Touristin heute Abend?«
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und übergehe die ersten
beiden Fragen. »Ja, ich bin Touristin heute Abend. Was machst du hier? Warum
sitzt du nicht in deinem Taxi?«
»Montags ist mein freier Abend«, antwortet er.
»Mademoiselle, würden Sie bitte zurücktreten!«, sagt der
Sicherheitsmann. Das mache ich. Fühle mich aber wacklig auf den Beinen und in
die Enge getrieben.
»Wir haben gerade zu spielen aufgehört.«
»Wart ihr das?«, frage ich. »Das hat sich gut angehört. Die
Bläser haben mir gefallen.«
»Danke. Ich wünschte, die Touristen wären deiner Meinung. Sie
sind nicht gerade in Geberlaune heute Abend, und uns ist es zu kalt, um noch
länger hier drauÃen zu bleiben. Wir haben ohnehin gleich einen Gig. Einen
bezahlten. Auf einer Party.« Er stöÃt mit der FuÃspitze gegen meinen FuÃ. »Komm
doch mit. Wir lassen den Hut rumgehen. Mit zwei Mädchen in der Band machen wir
noch mehr Kohle.«
»Virgil! Komm endlich!«, ruft einer seiner Freunde.
»Gleich!«, ruft Virgil zurück.
Ich möchte nicht mehr reden. Ich möchte gehen. Jetzt auf der
Stelle.
»Nimm mir das bitte ab«, sage ich und reiche ihm meine
Gitarre. »Ich kann sie nicht mit nach oben nehmen und möchte sie nicht â¦
einfach hier unten lassen.«
»Ich kann nicht. Ich muss los.«
»Ist schon okay. Du musst nicht auf mich warten. Nimm sie
einfach mit.«
»Aber wie soll ich sie dir zurückgeben?«
»Ich weià nicht. Irgendwie halt.«
Mein Blick ist in die Ferne gerichtet, nicht auf ihn, aber er
stellt sich vor mich und zwingt mich, ihn anzusehen. Jetzt lächelt er nicht
mehr. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Jetzt komm schon, Mann«, sagt jemand und zupft Virgil am
Ãrmel.
Virgils Freunde kommen zu uns herüber. Er will mir noch etwas
sagen â das sehe ich ihm an â, aber jemand fragt: »Wer ist das?« Worauf er uns
einander vorstellt. Da ist Constantin, zerzaust und dünn, mit groÃen weiÃen
Zähnen. Charon, der eine Trompete hält. Khadija, das schöne Mädchen aus dem
Rémyâs. Jules kenne ich schon. Ich murmle ein paar Hallos, während mich der
Schmerz bei lebendigem Leib auffrisst.
»Kommst du?«, fragt Charon.
»Noch einen Moment«, sagt Virgil und sieht mich immer noch
an.
»Das wärâs«, bellt der Sicherheitsmann. »Wir sind voll.
Keiner mehr.«
Ich fahre herum. Er schlieÃt das Aufzugstor.
»Nein! Warten Sie!«, rufe ich. Ich schiebe Virgil die Gitarre
zu und laufe zur Kasse. Werfe mein Geld auf den Schalter. »Bitte!«
»Wir haben geschlossen«, sagt der Kassenmann.
Ich sehe auf meine Uhr. »Aber es ist erst elf. Der Turm wird
doch nicht vor Viertel vor zwölf geschlossen. Das steht auf dem Schild!«
»Richtig, der Turm wird um elf Uhr fünfundvierzig
geschlossen, aber der letzte Aufzug geht um elf.«
»Bitte, lasse Sie mich mit«, sage ich und schiebe ihm das
Geld hin.
Er schiebt es zurück. »Tut mir leid«, antwortet er.
Mit dem Geld in der Hand renne ich zum Gitter und bitte den
Sicherheitsmann, mich einsteigen zu lassen. Er hebt die Hand wie ein
Verkehrspolizist und schlieÃt die Aufzugstür.
»Ich muss mitfahren!«, flehe ich und strecke ihm mein Geld
entgegen. Biete ihm mehr. Die Leute im Aufzug starren mich an. Ich beginne zu
weinen.
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Turm läuft nicht
davon. Kommen Sie morgen wieder«, sagt der Sicherheitsmann.
Aber ich kann nicht bis morgen warten. Der Schmerz ist zu
groÃ. Lässt nicht nach. Wird immer schlimmer. Der Sicherheitsmann drückt auf
einen Knopf und der Aufzug hebt ab. Ich schluchze inzwischen. Sinke auf die
Knie und schlage mit dem Kopf gegen das Gitter.
»Hören Sie auf damit. Sofort! Oder ich rufe die Polizei«,
sagt der Sicherheitsmann warnend.
Ich spüre Hände unter meinen Armen, die mich hochziehen. Es
ist Virgil. Er stellte mich auf die FüÃe und führt mich weg von dem Gitter.
Seine Freunde sind bei ihm. Ihre Augen sind gröÃer als ihre Gesichter.
Constantin nimmt eine Broschüre von dem Ständer neben dem
Kassenfenster. Unsicher lächelnd kommt er auf mich zu und reicht sie mir. »Der
Louvre ist auch gut«, sagt er. »Da gibtâs âne Menge
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