Das Blut der Lilie
was.«
»Mach keine Witze, Jules.«
»Das tut er nicht â¦Â«, ruft Khadija.
»Da ist ein Zug!«, schreit Jules. »Ein Arbeitswagen! Ich kann
ihn sehen!«
»Haltâs Maul, Jules!«, brüllt Virgil. »Alle! Maul halten und
rennen!«
Er legt einen Zwischenspurt ein. Die andern ebenfalls. Weit
vor mir flitzen sie davon. Virgil ruft mir zu, ich solle mich beeilen. Ich
laufe schneller, versuche Schritt zu halten mit ihnen. Und dann sehe ich es.
Einen Lichtschein. Der jede Sekunde stärker wird. Der Boden dröhnt. Luft
wirbelt auf.
Und ich habe Angst.
Virgil ist eine Silhouette im blendenden Licht der
Scheinwerfer. Er wird kleiner und kleiner, dann ist er ganz weg. Und dann
wieder da. Sein Kopf schieÃt aus der Mauer hervor, hinter die er verschwunden
ist. Er hat die Gitarren nicht mehr. Er schreit mich an. Streckt die Hand nach
mir aus. Ich bin noch gut zwanzig Meter entfernt von ihm. Der Zug vielleicht
hundert. Aber der ist viel schneller als ich. Ich kann ihn jetzt sehen. Ganz
deutlich. Ich kann seine Scheinwerfer sehen, seine hässliche Eisenfratze.
»Lauf, Andi, lauf!«, schreit Virgil. »Schau nicht auf den
Zug. Schau zu mir! Lauf! Lauf!«
Ich renne. Wie ich noch nie in meinem Leben gerannt bin â mit
rudernden Armen, mit Beinen wie Schwingkolben. Von den Gleisen wirbelt Unrat
auf. Virgil schreit. Jules und Charon schreien. Ich schreie. Das Licht wird
heller. Der Zug hupt mit ohrenbetäubendem Lärm. Bremsen quietschen.
»Schau nicht auf den Zug. Schau zu mir! Lauf, verdammt!
Lauf!«, schreit Virgil.
Der Zug ist bloà noch ein paar Meter von mir entfernt. Fünfzig.
Zwanzig. Zehn. Ich bin fast dort. Fast am Bogengang. Aber fast ist nicht ganz.
Ich werde es nicht schaffen. Ich werde sterben. Unter den Rädern eines
Métro-Zugs.
Und plötzlich will ich das nicht.
Ich setze zu einem letzten verzweifelten Spurt an. Als ich
kaum eine Sekunde vor dem Zug den Bogengang erreiche, greift Virgil nach mir.
Packt mich an der Jacke. ReiÃt mich hoch, meine FüÃe heben ab, ich schwebe in
der Luft und fliege schreiend durch den Bogengang. Der Zug rauscht vorbei. Ich
spüre den Luftdruck, dann liege ich am Boden, auf Virgil. Er hält mich fest. Er
schreit mich an. Auf Französisch, auf Englisch und Arabisch. Dann umschlieÃt er
mein Gesicht mit beiden Händen und küsst mich heftig auf den Mund.
Und ich möchte für den Rest meines Lebens nichts anderes tun,
als seinen Kuss zu erwidern, genau hier, auf dem schmutzigen Boden, aber das
mache ich nicht. Denn Khadija steht ein paar Schritt neben uns. Jules zerrt
mich hoch. Constantin klopft mir auf den Rücken. Kadija legt die Arme um mich,
was ziemlich eigenartig ist. Ich meine, schlieÃlich hat ihr Freund gerade mit
mir rumgeknutscht. Alle hüpfen herum, schreien und lachen.
AuÃer mir. Ich bin zu gelähmt, um herumzuhüpfen. Nicht, weil
mich ein Métro-Zug gerade fast überfahren hätte. Sondern weil Virgil mich
geküsst hat.
  63 Â
Jules holt eine Flasche Wein aus seinem Rucksack und öffnet
sie mit zitternden Händen. Wir alle nehmen einen Schluck.
»Ich glaub, ich hab mir in die Hosen gepinkelt«, sagt Virgil
und befühlt die Rückseite seiner Jeans.
»Das ist Tunnelwasser«, sagt Jules. »Du hast dich rein
gelegt.«
»Das ist ja noch schlimmer.«
Die Weinflasche macht erneut die Runde. Virgil trinkt und
reicht sie an mich weiter. »Hey, du schuldest mir was«, sagt er. »Ich hab dir
das Leben gerettet.«
»Schon zwei Mal«, antworte ich, ohne nachzudenken.
»Was?«
»Hm?«, frage ich zurück.
»Du hast gesagt, schon zwei Mal.
Ich lache gezwungen. »Ich habe gesagt: âºecht optimalâ¹.«
Er lacht nicht. Er sieht mich an, nimmt seine Gitarre und
geht weg. Ich greife nach meiner und folge ihm. Während wir uns vom Tunnel
entfernen, nimmt das Licht immer mehr ab. Virgil zieht zwei Taschenlampen aus
seinem Rucksack. Mit einer leuchtet er nach vorn, Jules bildet die Nachhut mit
der anderen. Ich habe auch eine. Eine Minilampe mit wirklich starkem
Lichtstrahl. Vijay hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Damit leuchte ich auf
den Weg vor mir. Nachdem wir etwa zehn Minuten durch einen engen Tunnel
gegangen sind, kommen wir an ein verrostetes, staubiges Gitter. Ein
Vorhängeschloss liegt auf dem Boden, mit durchgesägten Bügeln.
»Die Kataflics â die Tunnelpolizei
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