Das Blut der Lilie
Verliesen entflohen?
Nein. Hören Sie zu. Bitte, hören Sie mir zu â¦
Er schnalzt mit der Zunge. Die Märchen haben dich
getäuscht. »Es war einmal â¦Â« hat es nie gegeben. Es gibt keinen freundlichen
Jäger. Keine guten Feen. Es gibt nur den Wolf. Der inzwischen so kühn geworden
ist, dass er durch die StraÃen von Paris streicht und die Rippen eines Kindes
als Zahnstocher benutzt. Nichts ändert sich, kleiner Spatz. Siehst du das
nicht? Die Welt dreht sich weiter, morgen genauso stumpfsinnig und brutal wie
heute.
Und obwohl ich vor Schmerz zittere, mich krümme und
schluchze, muss ich lachen. Weil ich jetzt genug weiÃ. Die Antwort, die
Wahrheit kenne.
Ach, toter Mann, sage ich, du täuschst dich gewaltig.
Siehst du das nicht? Die Welt dreht sich weiter, stumpfsinnig und brutal, aber
ich â
Und hier bricht der Text ab. Hört einfach auf.
Und was auch immer sie mir sagen wollte, ist nicht da.
Es gibt keine Antwort. Keine Erklärung. Keine Wahrheit.
Nichts.
Ich weià nicht, ob sie überlebt hat oder gestorben ist. Ich
kenne das Ende ihrer Geschichte nicht und werde es nie erfahren.
Alles, was ich weiÃ, ist, dass ein kleiner Junge in Paris
starb, vor langer Zeit, allein in einer dunklen, schmutzigen Zelle. Und ein
anderer Junge starb auf einer StraÃe in Brooklyn, sein kleiner Körper
zerschmettert und blutüberströmt.
Ich lege die Finger auf den Fleck. Blut verfärbt sich immer
dunkel. Auf Papier. Auf Kleidern. Auf Asphalt. Und dann schlieÃe ich das
Tagebuch.
Ich dachte, dies alles würde zu etwas führen. Ich dachte, in
diesen Seiten wäre mehr als Traurigkeit, Blut und Tod.
Aber das stimmt nicht. Und die Verzweiflung, die immer in mir
ist, die tief in meinem Innern wurzelt, blüht plötzlich zu etwas auf, das so
riesig, schwarz und erstickend ist, dass ich keine Luft mehr bekomme.
Ich stehe auf, lege das Tagebuch in den alten Gitarrenkoffer
und lasse ihn unverschlossen auf dem Esstisch zurück, wo G. ihn nicht übersehen
wird. Dann hole ich meine Jacke und meine Tasche. Und meine eigene Gitarre.
Ich kenne das Ende der Geschichte.
Von Alex und mir.
Ich habe es die ganze Zeit gekannt.
  60 Â
Es ist spät nachts. Der Eiffelturm ist beleuchtet und
wunderschön. Ich sitze auf einer Bank unter Bäumen auf dem Champ de Mars und
blicke zu ihm hinüber. Ich bin schon seit Stunden hier. In der Dunkelheit. Der
Kälte. Ich habe versucht, Gitarre zu spielen, konnte es aber nicht. Ich kann
meine Musik nicht mehr finden. Kann diese eine Note nicht finden.
Jetzt höre ich zu, wie andere Leute spielen. Ich kann sie
nicht sehen, aber hören. Sie sind irgendwo in der Nähe. Ich höre eine Gitarre,
eine Mandoline, Bläser, die Stimme eines Mädchens.
Ich bin müde. Mein Kopf ist benebelt von den vielen
Tabletten. Meine FüÃe schmerzen. Ich bin den ganzen Weg von G.s Haus zu FuÃ
hierher gelaufen.
Aber es ist okay.
Ich muss nicht mehr weit gehen.
Nur noch einen Schritt.
  61 Â
Ich stehe in der Schlange vor dem Turm. Es ist eine gute
Entscheidung, eine sichere Sache. Besser als der Fluss. Manchmal überleben
Leute den Fluss.
Um mich herum sind Touristen, sie reden und lachen. Händler
verkaufen gefälschte Rolex-Uhren, Halstücher und Schlüsselketten. Die Musik,
die ich vorher von fern gehört habe, dringt jetzt aus gröÃerer Nähe zu mir
herüber. Sie ist schön, wild und ungebärdig. Ich blicke mich nach den Musikern
um, starre in die Dunkelheit, kann sie aber nicht sehen.
Die Schlange schiebt sich vorwärts und ich mich mit ihr. Die
Musik bricht ab. Ein paar Minuten später stehe ich vor der Kasse. Ich ziehe
mein Geld heraus, aber der Mann sagt, ich dürfe nicht rauf â nicht mit meiner
Gitarre. Ich müsse sie zurücklassen, wenn ich hinauf will. Ich frage ihn, wo
ich sie unterstellen könne. Er sagt, das sei kein Flughafen hier, es gebe keine
Gepäckaufbewahrung. Er bedeutet mir, den Platz vor der Kasse freizumachen. Die
Leute hinter mir fangen an zu murren. Der Mann an der Kasse sagt, ich solle zur
Seite zu treten. Ein Paar drängt sich an mir vorbei.
Und dann höre ich eine andere Stimme: »Hey! Hey, Andi!«
Ich drehe mich um. Virgil steht da. Er ist auÃer Atem. Jules,
zwei weitere Typen und ein Mädchen stehen in einiger Entfernung und beobachten
uns.
»Hey.«
»Hey«, antworte ich.
»Wolltest du
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