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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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der Tradition gemäß wurde sein Herz zur
Einbalsamierung entnommen. Es muss aufgeschnitten und mit Kräutern gefüllt
worden sein. Das Herz, das wir hier haben, wurde hingegen nicht auf diese Weise
einbalsamiert. Es kann also nicht von Louis-Joseph stammen.«
    Meine letzten Hoffnungen schwinden und erlöschen wie das
Licht einer heruntergebrannten Kerze.
    Â»Was ist mit Cousins? Hatte Marie Antoinette denn keine
Schwestern? Diese hatten vermutlich doch auch Kinder? Könnte das Herz nicht von
einem dieser Kinder stammen?«
    Â»Es gab Habsburger Cousins, ja«, sagt G. bedächtig und mit
besorgtem Blick. Wahrscheinlich ist ihm die Verzweiflung in meiner Stimme nicht
entgangen. »Das waren alle Kinder königlichen Geblüts, die im Ausland lebten.
Die These, dass eines ihrer Herzen gestohlen, konserviert und nach Paris
geschmuggelt worden sein könnte und dass alle, die auf verschiedene Weise am
Transport dieses Herzens nach Saint-Denis beteiligt gewesen wären, gelogen
hätten … ist einfach unrealistisch, Andi. Nichts in der Geschichte deutet
darauf hin – von einem Beleg ganz zu schweigen –, dass dergleichen geschehen
ist. Das Herz ist das von Louis Charles.«
    Â»Bist du sicher, G. … absolut sicher?«
    Â»Ja, das bin ich.«
    Â»Dad?«
    Â»Als Wissenschaftler kann ich nicht …«
    Â»Tu einfach mal eine Minute lang so, du wärst du es nicht,
okay?«, unterbreche ich ihn. Alle hören jetzt deutlich meine Verzweiflung, die
inzwischen zur Hysterie angewachsen ist. Die ich nicht mehr beherrschen kann.
    Â»Als wäre ich was nicht?«
    Â»Ein Wissenschaftler. Tu so, als wärst du ein menschliches
Wesen. Nur dieses eine Mal.«
    Â»Andi?«, fragt er. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Was …«
    Â»Bist du sicher ?«,frage ich
ihn.
    Er sieht mich schweigend an, in seinen Augen glimmt
Verständnis auf, dann antwortet er: »Würde ich mich allein auf die Geschichte
stützen, wäre ich nicht sicher, nein. Wie du und G. wohl wisst. Jedoch aufgrund
eindeutiger wissenschaftliche Beweise im Verbund mit zufälligen historischen
Belegen, würde ich sagen: Ja, ich glaube, dieses Herz gehörte Louis Charles.
Als Wissenschaftler – und als menschliches Wesen – ist das meine Überzeugung.
Tut mir leid, Andi, wahrscheinlich hast du dir eine andere Antwort gewünscht.«
    Ich fühle mich ausgehöhlt. Ausgebrannt. Vollkommen leer.
    Â»Dr. Alpers, Professor Lenôtre, wenn Sie so freundlich
wären«, sagt Betrand.
    G. packt seine Aktentasche und eilt hinaus. Dad hinter ihm
her. Bevor er geht, dreht er sich noch einmal um und sagt: »Ich komme nach der
Pressekonferenz nach Hause. So gegen sieben. Wir sehen uns dann. Vielleicht
können wir zusammen essen.« Die Tür schlägt zu. Er ist fort.
    Ich hole Alex’ Tagebuch. Es ist noch eine ungelesene Seite
darin, und in mir brennt nur noch ein winziges Flämmchen.
    Vielleicht hat sie es geschafft. Nach seinem Tod wird sie
vermutlich damit aufgehört haben, Feuerwerke zu zünden. Aufgehört haben, ihr
Leben zu riskieren. Aufgehört haben davonzulaufen. Vielleicht stammt das Blut
auf der Seite nur von einer Verletzung. Sie wird verletzt gewesen sein, hat
aber überlebt, wie schon einmal. Und ist irgendwie davongekommen.
    Ich öffne das Tagebuch zum letzten Mal und beginne zu lesen.

    Â Â 59  

    1. Juni 1795
    Warum, kleiner Spatz?
    Es ist der Herzog von Orléans.
    Ich öffne die Augen, kann ihn aber nicht sehen. Der
    Schmerz in meiner Seite lähmt mich. Ich bin in den
Katakomben. Sitze in einer Lache aus meinem eigenen Blut, gegen eine Mauer
gelehnt. Eine Wache hat mich angeschossen.
    Warum hast du das getan?, fragt er mich. Sie haben dich
umgebracht.
    Weil … weil ich ein Mal …
    Ich will es ihm sagen. Die Wahrheit niederschreiben. So
lange ich noch kann. Die Wahrheit über die Revolution. Nicht über die
Revolution anno 1789 in
Paris, sondern über meine ganz persönliche. Aber ich kann nicht sprechen. Der
Schmerz lässt es nicht zu.
    Der Herzog lacht leise. Jetzt kann ich ihn sehen. Blut
und Seide. Augen so dunkel wie die Mitternacht. Er beugt sich zu mir herab.
Sein Atem riecht wie Regen.
    Ein Mal? Was – ein Mal? Es war einmal? Vor langer Zeit,
als Könige gegen Drachen kämpften und Küchenmädchen in Glasschuhen tanzten?
Einmal vor langer Zeit, als Prinzen aus ihren

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