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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ausgelöscht ward,
    Sondern
Reste blieben noch zerstreut,
    Dunkle
Gedächtnisse – wie jetzt,
    Da
wieder hell das Ziel erscheint.«
    Â»Wow. Das ist tiefgründig«, sagt Jules.
    Â»Weißt du, wer das gesagt hat?«, fragt Constantin aufgeregt.
»Agent Mulder. Akte X . Vierte
    Staffel. 5. Folge. ›Das Feld, wo ich starb.‹ Mein Cousin hat die DVD .«
    Virgil schnaubt.
    Â»Was, du Klugscheißer? Wer hat es dann gesagt?«
    Â»Robert Browning. Er hat es geschrieben. Es ist aus einem
Gedicht. Aus ›Paracelsus‹.«
    Â»Du machst mich so heiß, wenn du Gedichte rezitierst«, sagt
Jules und schmatzt ihm einen Kuss auf die Wange. Virgil schubst ihn von sich
weg.
    Â»Ja, mich auch«, sage ich. Im Stillen.
    Ich lese das Gedicht noch einmal und ein Schauer läuft mir
den Rücken herunter, als ich feststelle, dass ich einige Zeilen kenne. Der
Junkie auf dem Flohmarkt von Clignancourt hat sie zitiert. Vermutlich hat er
sie von einem seiner Ausflüge hier herunter mitgebracht, wo er Knochen
gestohlen hat, und aus irgendeinem Grund, sind sie ihm in den Kopf gekommen,
als ich gestern das Bild von ihm gekauft habe. Aber dennoch befällt mich ein
unheimliches Gefühl, wenn ich diese Worte jetzt lese. Als hätte er gewusst,
dass ich hierher kommen und sie sehen würde. Aber was heißt das überhaupt – dass hier das Leben nicht
vollständig ausgelöscht ward, sondern Reste blieben noch verstreut ?
Ich drehe mich um, um Virgil danach zu fragen, und bemerke, dass ich ganz
allein bin. Sie sind alle weitergegangen. Ich beeile mich, sie einzuholen.
    Als ich wieder bei ihnen bin, biegen wir vom Haupttunnel nach
rechts ab, gehen noch etwa fünf Minuten, biegen nach links, und dann sehe ich
einen Lichtschein am Ende Tunnels, sanft und golden, und höre Musik. Wir biegen
noch einmal nach rechts ab und befinden uns plötzlich in einem großen Gewölbe.
Es wird von Dutzenden Kerzen erleuchtet und ist voller Menschen – alle lachen,
trinken, reden und tanzen. Es gibt Punks und Normalos. Hippies mit Schals um
den Kopf. Höhlenforscher mit Grubenlampen. Grufties. Ein Mädchen jongliert. Ein
anderes geht in ein Leichentuch gehüllt herum. Ich höre Französisch, Englisch,
Deutsch, Italienisch und Chinesisch. Musik aus einem iPod. Während ich total
fasziniert stehenbleibe, flitzt ein Typ in knapper Badehose vorbei.
    Â»Willkommen am Strand«, sagt Virgil.
    Er begrüßt Leute, die er kennt, klatscht ihnen in die Hand,
stößt die Faust mit ihnen zusammen und küsst sie. Dann führt er uns zu einem
großen Steintisch in der Mitte des Gewölbes, wo wir unsere Sachen ablegen.
    Â»Warum heißt der Ort hier Strand?«, frage ich.
    Er deutet auf ein Gemälde an der Wand, das eine Welle zeigt.
Und dann auf den Boden, der nicht aus Kalkstein ist, sondern aus Sand. »Den
haben vor Jahren Leute hier herunter gebracht. In Kübeln«, sagt er. »Grab nicht
darin herum. Er deckt die Knochen zu.«
    Ich grabe mit der Zehenspitze im Sand, frage mich, wer wohl
darunter liegen mag und denke, wie seltsam die Dinge sich doch entwickelt
haben. Ich habe es nicht geschafft, mich heute Abend umzubringen, trotzdem bin
ich irgendwie in einem Grab gelandet.
    Â Â 64  
    Alle nehmen ihre Instrumente heraus und ich tue es ihnen
gleich, weil ich finde, dass ich genauso gut auch spielen kann, wenn ich schon
mal hier bin. Es lenkt mich wenigstens von dem Gedanken daran ab, was ich heute
Abend fast getan hätte. Jemand schaltet den iPod aus. Wir spielen Stücke von
den Beatles. Den Stones. Zeug, das jeder kennt. Khadija singt, und sie ist
wirklich gut. Wir spielen Alison , Hallelujah und Better Than .
    Ab und zu muss ich aussetzen bei Stücken, die ich nicht kenne.
    Die Leute finden uns gut. Sie tanzen und singen, johlen und
klatschen. Die Grufties führen eine Art Menuett auf – verbeugen sich, berühren
sich an den Händen und drehen sich. Einer von ihnen, ein umwerfend toller Typ,
steht abseits und hört bloß zu. Sein Gesichtsausdruck ist höchst merkwürdig –
als hätte er noch nie Musik gehört. Irgendwas an ihm kommt mir bekannt vor,
aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn schon mal gesehen und dann
vergessen haben könnte. Nicht dieses Gesicht. Und die Klamotten.
    Wir spielen fast eine Stunde und machen dann Pause. Jemand
reicht mir einen Pappbecher mit Wein. Ich versuche, stattdessen

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