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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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– versucht ständig, uns
auszuversperren«, sagt Virgil, kickt das Schloss zur Seite und reißt die
Gittertür auf. »Und wir versuchen ständig reinzukommen.«
    Jules macht Geistergeräusche und geht durch die Tür. Wir
folgen ihm. Virgil bildet jetzt die Nachhut. Ein paar Meter weiter zersplittert
etwas unter meinem Fuß. Ich schreie auf. Die anderen lachen. Virgil leuchtet
mit seiner Taschenlampe auf den Boden. Es ist ein Knochen.
    Â»Fass ihn nicht an«, warnt er mich.
    Â»Oh, danke. Das hatte ich nicht vor«, antworte ich.
    Â»Auf manchen Knochen ist ungelöschter Kalk. Er ätzt.«
    Er lässt seinen Lichtstrahl über die Tunnelwand streichen.
Bloß dass es keine Wand ist. Sondern eine Masse aus Schädeln und Knochen. Und
nicht so liebevoll gepflegt wie diejenigen auf der Tour. Diese hier sind grün
und schleimig. Zuweilen mit einem nassen, mineralisch aussehenden Zement
verklebt, der auf sie hinuntergetropft und hart geworden ist.
    Â»Stalagtiten«, sagt Constantin.
    Â»Stalagmiten«, widerspricht Jules.
    Â»Stalagschrecken«, murmle ich.
    Ein paar Meter weiter sind die Wände wieder aus Kalkstein.
Allerdings sind sie nicht grau wie die, die ich in den Katakomben gesehen habe,
sondern bunt bemalt. Mit Graffiti. Cartoons. Kopien alter Meister.
Originalgemälden. Darunter ein wirklich kunstvolles Bild von einem Mann, der
mit einem Skelett im Brautkleid tanzt.
    Â»Wow, das ist gut«, sage ich und trete näher heran.
    Die anderen gehen weiter. Virgil geht an mir vorbei und wirft
einen Blick darauf. »Das hat ein Nekrophiler gemalt«, sagt er. »Vor diesen
Typen musst du dich hüten. Sie schleichen ständig hier unten herum. Hüte dich
auch vor den Drogenkurieren – gewöhnlich zwei Männer, die sich schnell bewegen.
Die sind gern für sich.«
    Ich beeile mich aufzuschließen, stolpere über etwas – oder
jemanden –, taumle und falle gegen Virgil. Er greift nach meiner Hand und zieht
mich wieder auf die Beine. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Kann nicht sagen,
was er denkt. Ich möchte, dass er mich wieder küsst. Ich möchte unbedingt
wieder seine Arme um mich spüren. Bin aber froh, dass es dunkel ist. Froh, dass
er nicht sehen kann, was mir ins Gesicht geschrieben steht. Froh, dass auch
Khadija das nicht kann.
    Â»Alles okay?«, fragt er knapp.
    Â»Ja.«
    Â»Gut«, sagt er und lässt meine Hand los.
    Der Tunnel biegt erst nach links, dann nach rechts und wird
schmaler. Ich kann Wasser rauschen hören. Der Boden wird matschig, dann
schlammig. Wir sind zu einem unterirdischen Bach gekommen.
    Virgil bleibt stehen und leuchtet mit seiner Taschenlampe an
die Wand. Rue
d’Archeron hat jemand darauf geschrieben. »Wir sind fast da«,
sagt er.
    Charon springt über den Bach und streckt die Hand aus, um mir
hinüberzuhelfen. Wir gehen weiter. Der Tunnel wird niedriger, die Wände noch
enger. Es ist unheimlich, erdrückend und seltsam kühl. Ich lasse beim Gehen den
Lichtstrahl meiner Lampe über die Wände streichen. Es gibt noch mehr Bilder.
Von einem Löwen. Einem Wolf. Einem Leoparden. Und eine Kreidezeichnung von
einem großen, furchterregenden weißen Mann. Seine linke Hand ist ausgestreckt
und deutet auf etwas.
    Â»Den habe ich schon einmal gesehen«, sage ich. »Hinter uns
bei dem tanzenden Skelett.«
    Â»Ja, er hat uns die ganze Strecke begleitet«, sagt Virgil.
»Er zeigt den Weg zur Party.«
    Â»Woher weißt du das? Wie findest du dich überhaupt hier unten
zurecht?«, frage ich.
    Â»Ich habe die Karten studiert. Die Giraud-Karte, die in den
vierziger Jahren erstellt wurde. Und Titans Karte. Aber inzwischen kenne ich
den Weg auswendig. Ich komme schon seit Jahren hier runter.«
    Ein paar Minuten später kommen wir an eine Stelle, wo ein T.
Soundso etwas auf den Kalkstein geschrieben hat.
    Â»Die Schrift an der Wand!«, sagt Jules. Er bleibt stehen, um
den Text zu lesen. Virgil geht weiter und sagt ihn auswendig auf:
    Â»â€¦ bisweilen träum’ ich fast
    Auch
ich hätt’ einst ein Leben nach alter Sagen Art gehabt,
    Und
noch einmal den alten Weg gewählt.
    Vielleicht,
dass ich vor einem Alter
    In
angemaßtem Selbstvertrauen scheiternd,
    In
dem Moment Gebete aufgesandt
    Von
solchem Ernst, so voll von bessrem Licht,
    Vom
Tode eingelassen
    Um
eine, nur eine Möglichkeit,
    Dass
hier das Leben nicht vollständig

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