Das Blut der Lilie
und Träume sind nicht real. Es sei denn,
man ist verrückt. Also sage ich mir, was ich mir gestern schon gesagt habe â
das Ganze ist ein Filmset und dieser Typ ein Schauspieler. Er spielt die Rolle
des Amadé Malherbeau, das ist alles.
Im Moment sitzt er an einem langen Holztisch, der mit
Notenblättern bedeckt ist. Manche liegen am Boden. Er spielt, während ich ihn
anstarre. Schreibt Noten. Spielt wieder. Flucht. Kritzelt erneut Noten aufs
Papier.
Irgendetwas macht mir Sorgen, irgendetwas, was gestern Nacht
passiert sein muss. Aber was? Jetzt fällt es mir wieder ein. »Hey, haben Sie
mir letzte Nacht was in meinen Drink getan? Ja?«
»Natürlich nicht. Warum sollte ich?«
»Um mich hierher zu schleppen. In Ihr Bett?«
Amadé schnaubt. »Monsieur verkennt meine freundschaftlichen
Absichten.«
Gestern Nacht nannte er mich auch Monsieur. »Hey, ich bin
kein Mann, klar?«
Er starrt mich verständnislos an. »Nein?«
»Nein, bin ich nicht.«
»Aber Ihre Kleidung ⦠keine Frau trägt Reithosen.«
»Jetzt reichtâs, okay? Schluss mit dem ganzen
Historien-Quatsch«, erwidere ich gereizt.
Ich stehe auf, finde meine Stiefel und ziehe sie an. Ich weiÃ
nicht, wo ich bin. Ich dachte, ich wäre in G.s Haus, was aber leider nicht
stimmt. Ich möchte mich duschen, die Flöhe, den Hundegestank, die ganze
Freakshow abwaschen.
Ich sehe auf meine Uhr. Es ist 12.03 Uhr. Etwa um die Zeit
hat die Razzia am Strand stattgefunden. Die Uhr ist stehen geblieben. Sie muss
einen Schlag abbekommen haben, als ich in den Katakomben gestürzt bin. Ich
hoffe inständig, mein Vater hat gestern Nacht mein Zimmer nicht kontrolliert.
Wenn ja, bin ich tot.
»Wo sind wir? Wo ist die nächste Métro-Station?«, frage ich
Amadé.
»Métro? Was ist das?«
Warum kann er nicht endlich mit dem Blödsinn aufhören? Ich
gehe zum Fenster und ziehe die schweren, staubigen Vorhänge zurück. Paris ist
noch da, das ist immerhin etwas. Dann sehe ich, was ich letzte Nacht gesehen
habe â Pferde und Kutschen. Keine Autos. Keine Busse. Frauen tragen altmodische
Kleider. Männer verkaufen Brennholz und Milch aus Kannen. Es ist der Film, sage
ich mir. Noch immer. Ich suche den Eiffelturm, kann ihn aber nicht entdecken.
Auch keine anderen hohen Gebäude. Ich lasse den Vorhang fallen. Am anderen Ende
der Kammer kämpft Amadé immer noch mit der Phrase. Das bereitet mir
Kopfschmerzen.
»Falscher Akkord. Versuchen Sie g-Moll.«
»Moll, sagen Sie?«
»Moll.«
»Eine ungewöhnliche Alternative«, erwidert er nachdenklich und
probiert es aus.
»Haben Sie noch Kaffee?«, frage ich.
»Ja«, antwortet er, macht aber keinerlei Anstalten, welchen
zu holen.
Ich sehe mich nach einer Kaffeemaschine um, nach einem Kühlschrank,
einem Abwaschbecken, aber nichts davon ist vorhanden. Es gibt bloà den riesigen
Raum, in dem wir uns befinden, einen offenen Kamin und ein paar Möbelstücke.
Ich öffne die Türen eines Schranks und finde eine Karaffe Rotwein, ein Stück
harten Käse und etwas nassen Kaffeesatz in einer Schale. Dieser Typ ist
offensichtlich ein ziemlicher Chaot. Ich nehme die Schale und blicke mich nach
einem Mülleimer um.
»Was machen Sie da?«, fragt Amadé.
»Den Müll wegwerfen. Wo bewahren Sie Ihren Kaffee auf?«
»Sind Sie verrückt? Das ist Kaffee. Stellen Sie ihn
wieder zurück!«
»Aber der ist schon gebraucht.«
»Erst zwei Mal. Da ist noch Aroma drin. Ich bin froh,
wenigstens noch so viel zu haben. Im Moment kommt nur wenig Kaffee und noch
weniger Zucker von den Plantagen. Und was hier ankommt, ist entsetzlich teuer.
Das müssen Sie doch wissen.« Er kneift die Augen zusammen. »Vielleicht haben
Sie Kontakte? Um an Kaffee zu kommen? An Zucker? Ich würde viel darum geben.
Ich kann ohne Kaffee nicht komponieren. Nicht einmal denken kann ich ohne.«
»Ja. Okay. Ich geh gleich welchen besorgen.« Einen doppelten
Espresso. Für mich selbst. Weil ich ihn und seinen Irrsinn absolut und
endgültig satt habe.
»Was, jetzt? Am hellichten Tag? Sind Sie wahnsinnig? Wissen
Sie nicht, was mit Leuten geschieht, die Schwarzmarkthandel betreiben? Wenn man
Sie erwischt, werden Sie getötet.«
Ich sehe ihn an. »Der Witz hat allmählich einen ziemlich
langen Bart.«
»Welcher Witz?«, fragt er verwirrt.
»Sie wissen, welcher Witz.
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