Das Blut der Lilie
bemerkt, dass mir kalt ist und bittet Gilles, sich mit
unserem Essen zu beeilen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht brauche ich
einfach etwas zu essen. Ein paar Minuten später wird die Speise serviert.
Gebratenes Huhn, sagt Amadé grinsend und macht dann einen Scherz über die
Abwesenheit von Krähen in Paris. Ich probiere etwas davon. Es schmeckt
furchtbar. ScheuÃlich und zäh. Es wird mir sicherlich nicht besser, wenn ich
davon esse, und Amadé zu beobachten, der mit den Händen isst, trägt auch nicht
gerade zu meinem Wohlbefinden bei.
Jetzt reichtâs, denke ich. Ich haue hier ab. Ich gehe auf die
Damentoilette, wasche mir die Stirn richtig ab und suche mir dann ein Taxi. Ich
frage Amadé, wo das stille Ãrtchen sei. Er sagt, ich müsse durch die Küche
gehen.
Die Küche ist ebenfalls zeitgetreu nachgebildet. Ungerupfte
Vögel hängen von der Decke. Auf einem Tisch liegt ein borstiger Schweinekopf.
Aale ringeln sich in einem Korb. Ich laufe im Kreis herum und suche nach einer
Tür mit der Aufschrift WC , kann aber keine finden.
»Hier raus!«, erklärt mir ein Mann knapp und deutet auf eine
offene Tür. Ich gehe nach drauÃen, aber da ist nichts â nur zwei Männer, die
auf einen Abfallhaufen pinkeln.
Ich breche in Panik aus. Ein Gedanke, der mich nicht
losgelassen hat, seit ich in den Katakomben gestürzt bin, meldet sich immer
lauter zu Wort. Ich laufe zu dem Tisch zurück.
»Hör zu, ich glaube, ich hab einen Anfall«, sage ich zu
Amadé. »Wahrscheinlich verträgt sich ein Medikament nicht mit dem Wein, den ich
getrunken habe. Ich brauche Hilfe. Ich muss ein Taxi finden und nach Hause
fahren.«
»Wo ist Ihre Bleibe?«
Als ich es ihm sagen will, wird mir so schwindlig, dass ich
kaum mehr stehen kann.
»Kommen Sie«, sagt er und legt den Arm um meine Taille. »Ich
bringe Sie zu mir nach Hause.«
Taumelnd verlasse ich das Palais. Auf der StraÃe werden wir
von Kindern umringt. Sie sind so dünn, ihre Kleider so zerlumpt, und sie
scheinen überall zu sein. Eines von ihnen läuft auf uns zu und bettelt um
Essen. Amadé sagt ihm, dass er nichts habe.
»Es ist herzzerreiÃend«, sagt er. »Die Waisenhäuser von Paris
sind zurzeit überfüllt. Die hier müssen auf der StraÃe leben. Ihre Eltern
wurden vielleicht guillotiniert oder ihre Väter in einem der Kriege getötet.
Danton und Desmoulins, beide Väter, wollten das Schlimmste von Robespierres
Exzessen verhindern. Sie appellierten an ihn, Barmherzigkeit zu üben. Aber
Robespierre, Saint-Juste, Couthon hatten keine Kinder, nur Ideen, und in Ideen
wohnt wenig Gnade. Arme Teufel. Wahrscheinlich werden sie zusammengetrieben und
an Fabriken oder Bauernhöfe verkauft. Um sich zu Tode zu schuften. Das wird
geschehen.«
»In dem Film, richtig?«, frage ich und wünsche mir
verzweifelt, dass er mir zustimmt.
Er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Wie geht es Ihrem
Kopf jetzt?«, fragt er.
»Um mich dreht sich noch immer alles.«
Wir gehen eine Weile. Die Strecke kommt mir vage bekannt vor,
aber ich sehe nirgendwo Geschäfte, die ich kenne. Keine Supermärkte. Keine
Bäckereiketten.
»Hier wären wir«, sagt er schlieÃlich.
Ich blicke mich um. Wir sind auf der Rue du Grand Chantier.
Ich habe noch nie von ihr gehört, aber der Name steht auf den StraÃenschildern.
»Wohnst du hier?«, frage ich ihn.
»Ja«, antwortet er. Er bemüht sich, mich aufrecht zu halten
und gleichzeitig die äuÃere Tür zu öffnen. Er sperrt auf und wir sind im Hof.
Ich kenne das Marais â meine Mutter ist hier aufgewachsen und
bei unseren Besuchen in Paris spazierten wir immer gemeinsam durch die StraÃen
â, aber dieses Haus erinnert an nichts, was ich je gesehen habe. Es ist schäbig
und dunkel. Anstelle einer Lampe mit Glühbirne hängt eine Laterne über der Tür.
Ich kann Pferde riechen. Wir gehen hinein und steigen die Treppe in den dritten
Stock hinauf. Sein Appartement ist groÃ, kalt und muffig, mit rissigen Wänden
und Spinnweben an der Decke.
»Bitte, Sie müssen sich setzen. Ihnen geht es wirklich nicht
gut«, sagt Amadé.
Er führt mich zu einem groÃen Holztisch, zieht einen Stuhl
darunter hervor und zündet eine Kerze an. Ich setze mich, schlieÃe die Augen
und versuche erneut, den Schwindel zu stoppen.
»Hast du Kaffee?«, frage ich
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