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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Dieser ganze Blödsinn mit der
Revolution. Ich weiß, dass das alles hier nur ein Filmset ist, okay? Und Sie
ein Schauspieler. Und eine Weile lang war es auch ganz lustig, aber jetzt nicht
mehr. Wirklich nicht. Wo ist das Badezimmer? Ich muss nach Hause. Dringend.«
    Immer noch verwirrt deutet er auf eine alte Zinkwanne in der
Ecke. »Sie wollen doch kein Bad nehmen, oder?«, fragt er. »Ich habe nicht
ansatzweise genügend Brennholz, um so viel Wasser heiß zu machen.«
    Â»Wo-ist-die-Toilette?«, frage ich mit zusammengebissenen
Zähnen.
    Er greift unter den Tisch und zieht einen Nachttopf heraus.
Daraufhin raste ich aus. Total. Ich reiße ihm den Topf aus der Hand, knalle ihn
auf den Boden, wo er in tausend Stücke zerspringt.
    Â»Schluss jetzt! Hören Sie endlich auf damit!«, schreie ich
ihn an und habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
    Amadé blickt auf die Schweinerei am Boden. Er steht auf und
legt seine Gitarre weg. »Ich habe Ihnen geholfen«, sagt er wütend. »Ich habe
Ihnen zu essen gegeben. Kaffee gemacht. Sie in meinem Bett schlafen lassen. Und
so vergelten Sie es mir? Verschwinden Sie. Verlassen Sie mein Haus.«
    Â»Hören Sie, es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
    Aber ich komme nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden. Er
packt meine Jacke, meine Tasche und Gitarre, reißt die Tür auf, wirft alles auf
den Treppenansatz hinaus und sieht mich mit zornfunkelnden Augen an.
    Ich gehe, und er schlägt die Tür hinter mir zu. Ich setze
mich auf den Treppenabsatz und vergrabe den Kopf in den Händen. Es ist kalt
hier. Ich habe Hunger. Ich sollte mich auf den Weg machen, tue es aber nicht.
Ich habe Angst davor. Angst, aufzustehen und dieses Haus zu verlassen. Angst,
dass diese Historien-Welt dann irgendwie real werden könnte.
    Aber ich kann hier nicht ewig sitzen bleiben. Sonst pinkle
ich mir in die Hosen. Ich stehe auf und wanke die Treppe hinunter.
    Alles wird gut, sage ich mir. Alles wird gut.
    Â Â 70  
    Aber das stimmt nicht.
    Als ich die Etage darunter erreiche, sehe ich ein kleines
Mädchen, das mich mit traurigen Augen durch einen Türschlitz anstarrt. Es fängt
an zu weinen.
    Â»Ich dachte, du wärst mein Papa«, sagt es schluchzend. »Ich
warte und warte auf ihn, aber er kommt nicht heim. Sie haben ihn mitgenommen.
Ich will, dass er zurückkommt.«
    Eine Frau taucht auf. Sie zerrt das Kind nach drinnen und
mustert mich finster von oben bis unten. Ich frage sie, ob ich ihre Toilette
benutzen darf, und sie erwidert barsch, ich solle in den Hof gehen, wie jeder
andere auch.
    Ich frage mich, ob das hier vielleicht eine Art
Studentenwohnheim mit gemeinschaftlichen Badezimmern ist. Und vielleicht nennt
man die Badezimmer hier »den Hof«. Möglicherweise eine französische Eigenart.
Aber nein. Ich finde den Hof, und er macht seinem Namen alle Ehre – voller
Tiere, Ställe und Stalljungen, die mich seltsam ansehen. Die Toilette finde ich
dank ihres Gestanks. Sie ist praktisch nur ein Loch im Boden hinter dem
Kuhstall. Ich möchte es zwar nicht benutzen, habe aber keine andere Wahl.
    Danach trete ich auf die Straße hinaus und halte Ausschau
nach bekannten Gebäuden und Straßenzügen, kann aber keinen Anhaltspunkt
entdecken. Also beschließe ich, nach Süden zur Rue de Rivoli zu gehen, um mich
von dort aus weiter nach Osten zu orientieren, entlang der Rue du Faubourg
Saint-Antoine.
    Ãœberall sind Kinder. Genau wie letzte Nacht. Sie betteln, weinen
und rennen in Gassen herum wie streunende Katzen. Ich gehe an Hausierern,
Pferden und Zeitungsjungen vorbei. Eine Kutsche bespritzt mich, eine andere
überfährt mich fast. Im Eingang eines Metzgerladens bleibe ich stehen, um die
Straße besser zu überblicken. Ein großer Fehler.
    Â»Weg da!«, ruft eine laute Stimme hinter mir, und als
Nächstes liege ich der Länge nach auf der schlammigen Straße, meine Tasche und
meine Gitarre neben mir im Dreck.
    Ein Mann starrt auf mich hinab. Er trägt ein totes Schwein
auf den Schultern. Blut tropft aus dem durchgeschnittenen Hals. »Geh mir aus
dem Weg, du Esel!«, schreit er.
    Es sind Leute in der Nähe, aber keiner hilft mir. Einige
lachen mich aus oder schütteln den Kopf. Sie tragen lange Kleider mit Schürzen
darüber. Zerrissene Hosen und Kittel. Grobe Leinenhemden. Strümpfe und
Kniehosen. Sie schleppen Körbe, Krüge und Brotlaibe. Ihre

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