Das Blut der Lilie
sich um eine Art Vision, die
mein Unbewusstes aus irgendwelchen Erinnerungsfetzen zusammensetzte an
irgendwelche Dinge, die ich vor Kurzem gesehen hatte, wie etwa die Katakomben,
Malherbeaus Porträt, Bilder des alten Paris, das Tagebuch. Ich zwickte mich.
Schlug mir ins Gesicht. Aber nichts änderte sich. Mich fröstelt immer noch. Ich
bin immer noch nass. Immer noch verloren. Immer noch hungrig.
Damals, als ich bei Notre-Dame Gitarre spielte, dachte ich,
ich sei hungrig. Das war aber gar nichts im Vergleich zu jetzt. Denn jetzt
handelt es sich um einen geradezu mörderischen Hunger. Noch ein paar Tage ohne
Essen, noch ein paar Nächte im Freien schlafen â und ich bin tot. Tränen laufen
mir beim Gehen über die Wangen. Das sollte mir peinlich sein, aber niemand
beachtet mich. Die Leute haben in den vergangenen Jahren vermutlich Schlimmeres
gesehen.
Am Palais Royal setze ich mich auf eine Bank vor dem Eingang.
Da sitzt bereits jemand. Ein alter Mann. Er ist ziemlich merkwürdig gekleidet.
Er trägt keinen der düsteren, dunklen Anzüge, die ich sonst überall gesehen
habe, sondern ein grellbuntes, wenn auch schmutziges Outfit. Es sieht aus, als
hätte er es aus der Abfalltonne von Ludwig XIV .
gezogen. Seine Schuhe allerdings sind schick. Sie sind aus rotem Leder.
Er sagt mir, sein Name sei Jaques Chaussures. Ich stelle mich
ebenfalls vor. Er fragt mich, was mir fehle. Ich lache und frage ihn, wo ich
seiner Meinung nach anfangen solle.
»Beim Schlimmsten«, antwortet er.
»Ich habe Hunger«, sage ich. »Wahnsinnigen Hunger.«
Er greift in seinen Mantel, zieht eine Brotkruste heraus,
bricht sie entzwei und gibt mir die Hälfte. Das Brot ist trocken und schmutzig,
aber das kümmert mich nicht. Ich verschlinge es. Doch erst, als ich den letzten
Bissen hinuntergeschluckt habe, fällt mir ein, mich zu bedanken.
Er deutet auf meine Gitarre. »Kannst du darauf spielen?«
Ich nicke.
»Dann tu das. Ein guter Musiker ist nie wirklich arm.«
»Ãhm ⦠wo?«
Er sieht mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. »Na,
direkt hinter dir.«
»Im Palais? Ja, klar! Sie meinen, für Geld spielen? Ja, das
könnte ich machen. Absolut. Hey, danke, Jacques.«
Ich stehe auf und nehme meine Sachen. Selbst wenn ich bloÃ
ein paar Münzen verdiene, kann ich mir einen Laib Brot kaufen. Vielleicht sogar
etwas Käse dazu.
»Warte«, sagt Jacques und zieht einen schmutzigen Lappen aus
der Tasche. »Du blutest.« Er tupft meine Stirn ab. »Das ist eine scheuÃliche
Wunde. Tut die nicht weh?«
»Doch, die ganze Zeit«, antworte ich.
Ich verabschiede mich und gehe zum Palais. Es ist wahrhaft
ein irrer Anblick. Sogar noch verrückter als letzte Nacht. Während ich durch
die Höfe wandere, brennt mir ein Feuerschlucker fast die Haare ab. Eine Frau
tanzt auf einem Seil. Sie schiebt einen Schubkarren vor sich her mit einem kleinen
Kind darin. Mein Blick fällt auf eine Prostituierte, die auf dem Schoà ihres
Freiers sitzt. Sie kann höchstens vierzehn sein. Ein kleiner blinder Junge
bettelt mitleiderregend. Ich sehe tanzende Ratten. Einen mageren Affen an einer
Leine. Jongleure. Einen Bären mit Maulkorb. Würfelnde Spieler. Kleine Mädchen,
die Limonade verkaufen.
Und einen Kopf. Auf einem Tisch. Zuerst denke ich, es sei
eine Attrappe, aber das stimmt nicht. Fliegen umschwirren ihn. Leute machen
grausige SpäÃe damit. Stecken Zigarren in seinen Mund. Geben ihm Wein. Jemand
sagt, er sei einer von Fouquier-Tinvilles Leuten gewesen, ein Jakobiner. Aber
bald werde Fouquier-Tinville selbst in den Sack schneuzen, und dafür werde ganz
Paris zusammenströmen.
Ich gehe weiter. Weg von dem Kopf. Dann nehme ich meine
Gitarre heraus, stelle den geöffneten Koffer vor mich auf den Boden und beginne
zu spielen. Niemand beachtet mich. Ich spiele Lully, Rameau und Bach, aber ich
könnte genauso gut unsichtbar sein. Die Leute verhöhnen den Kopf, versuchen, die
Jongleure zu Fall zu bringen, treiben Unfug mit den Ratten. Mein Magen krampft
sich schmerzhaft zusammen. Panik überkommt mich bei dem Gedanken, tatsächlich
zu verhungern. Ich habe kein Geld. Muss aber unbedingt etwas essen. Ich muss
ihre Aufmerksamkeit gewinnen.
Ein Mädchen, das bunte SüÃigkeiten verkauft, kommt vorbei und
plötzlich geht mir ein Licht auf. Ich beginne eine aufrüttelnde akustische
Version von I Want
Candy zu spielen.
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