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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Gesichter sind
faltig, voller Pockennarben und Warzen. Sie haben schiefe Zähne. Verfaulte
Zähne. Oder gar keine. Und im hellen Morgenlicht sehe ich, dass alles real ist.
Es ist keine Schminke auf ihrer Haut, es gibt keine falschen Nasen oder
aufgemalten Narben.
    Schlammbespritzt rapple ich mich hoch und stelle mich dem
Unvorstellbaren – dieser untergegangenen Welt, diesem untergegangenen Paris, das
wieder zum Leben erwacht ist. Und ich mittendrin.
    Â»Geh aus dem Weg, zum Teufel!«
    Schnell drehe ich mich um. Es ist nicht der Metzger diesmal,
sondern ein Kutscher. Eilig greife ich nach meinen Sachen und haste zur
Straßenecke. Der Wagen rumpelt vorbei. Er hat hohe Seitenwände aus miteinander
verschnürten Holzlatten. Leute sind darin. Sie starren mich an, scheinen mich
aber nicht wahrzunehmen. Sie sind still. Einige weinen. Und mir wird klar,
worauf ich blicke – auf einen Schinderkarren, einen Wagen mit einem Käfig auf
der Ladefläche. Ich habe entsprechende Abbildungen gesehen. Diese Karren wurden
benutzt, um Leute zur Guillotine zu befördern. Zerlumpte Jungen rennen daneben
her und verspotten die Gefangenen. Ein kleines Mädchen läuft hinterdrein,
weinend.
    Â»Mein Gott. Warum hilft ihnen denn keiner?«, sage ich.
    Ein Passant bleibt stehen. »Ihnen helfen?«, knurrt er. »Das
sind Jakobiner! Endlich kriegen sie, was sie verdient haben. Warum denen
helfen? Oder du bist einer von ihnen?« Er fixiert mich eindringlich. »Ja,
vielleicht gehörst du auch da rauf.«
    Ich weiche zurück vor ihm. Weg von dem Wagen. Weg von den
Leuten, die mich anglotzen. Zuerst Schritt für Schritt und die Gitarre fest an
die Brust gedrückt, doch als einer auf mich zukommt, packt mich plötzlich die
Angst und ich renne davon. Eine Straße hinunter, dann die nächste, dann in eine
schmale Gasse. Nach ein paar Minuten bleibe ich stehen, um Luft zu holen.
    Ich kann immer noch Schreie hören, aber es sind nicht mehr
die Leute von eben, sondern Zeitungsjungen. Sie plärren die neuesten
Nachrichten heraus. Es geht um Prozesse und Hinrichtungen. Um Brotpreise. Einen
Aufstand. Und Feuerwerke. Es geht um den Grünen Mann. Die Wachen hätten ihn
fast gefangen, schreien sie. Er sei verletzt. Jetzt sei er ein waidwunder
Fuchs, der sich in seinem Bau verkrochen habe, aber General Bonaparte werde ihn
bald herauszerren.
    Das Herz klopft mir bis zum Hals, und ich hetze weiter. Als
ginge es nicht um Alex, über die hier herumgeschrien wird. Sondern um mich. Als
wäre ich diejenige, die sie jagen.
    Â Â 71  
    Ich rieche Kaffee, Würste, Fisch, Erdbeeren und Käse. In
Butter geröstete Zwiebeln. Speck. Zitronen. Paprika. Salzige Austern. Spinat.
Aprikosen. Der Geruch dringt aus Häusern. Aus Cafés. Weht mich verführerisch
von Karren, Ständen und den Körben der Hausierer an.
    Inzwischen bin ich auf dem Weg zum Palais Royal zurück, weil
ich nicht weiß, wo ich sonst hingehen soll. Ich habe ein Riesenproblem. Das
Größte überhaupt. Ich bin im achtzehnten Jahrhundert gelandet. Und es ist kalt,
regnerisch und dunkel. Ich bin durch ganz Paris gelaufen auf der Suche nach
einem Ausweg und völlig erschöpft. Meine Kleider sind durchnässt. Mir ist
eiskalt. Aber ich kann an nichts anderes denken als an etwas zu essen. Weil ich
so hungrig bin wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Seit vierundzwanzig
Stunden habe ich nichts mehr zu mir genommen. Eine Handvoll Qwells und ein paar
Bissen von dem mysteriösen Vogel mit Amadé zählen nicht.
    Vor ein paar Stunden versuchte ich, einen eklig aussehenden
Brotlaib zu kaufen. Ich gab dem Bäckermädchen zwei Euro. Sie schüttelte den
Kopf und gab mir die Münze zurück. Ich flehte sie an, das Geld zu nehmen. Sie
rief den Bäcker. Er sah mich von oben bis unten an und sagte, er würde mir
einen Tritt in meinen englischen Arsch geben, wenn ich mit meinem englischen
Geld nicht augenblicklich aus seinem Laden verschwände. Dann versuchte ich es
an ein paar der Marktstände, an denen ich vorbeikam – hatte aber ebenfalls kein
Glück.
    Ich schlief auch eine Weile. Eingerollt unter einem Baum im
Bois de Boulogne. Ich hatte mir eingeredet, es sei alles nur eine
Halluzination, ausgelöst von der Überdosis Antidepressiva, und wenn die Wirkung
schließlich nachgelassen hätte, würde ich in G.s Haus in meinem Bett liegen.
Aber das geschah nicht. Ich sagte mir, es handle

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