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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ihn.
    Er bejaht und meint, er müsse ihn nur aufwärmen. Ich höre ihn
mit Geschirr klappern. Ein paar Minuten vergehen. Ich umklammere die
Tischkanten, hole tief Luft und öffne die Augen.
    Vor mir steht eine Gänsefeder. Ein Tintenfass. Und eine alte
Zeitung liegt dort, die Gazette
    de France. Ich sehe das Datum – 14. Prairial III . Ich versuche, es umzurechnen und komme auf den 2.
Juni 1795. Der Tag nach Alex’ Tod. Sechs Tage bevor Louis Charles starb. Es ist
bloß eine Requisite, sage ich mir.
    Amadé stellt eine dampfende Kaffeeschale vor mir ab. Ich
danke ihm, trinke in kleinen Schlucken und stelle die Schale vorsichtig wieder
ab. Sie sieht aus wie eine Antiquität. Genauso der Tisch. Notenblätter liegen
darauf verstreut. Von Hand beschrieben, wie es scheint. Mein Blick folgt den
Noten. Es ist ein Rondo. Ein sehr altes Stück. Oben auf der ersten Seite stehen
zwei Initialen – A.M. Und plötzlich weiß ich, wo ich meinen Gastgeber schon einmal
gesehen habe – auf einem Gemälde. Einem Porträt. In dem alten Herrenhaus am
Bois de Boulogne.
    Â»Sie sind Malherebau, nicht wahr?«, frage ich und fürchte
mich vor der Antwort.
    Er lächelt. »Ja, das bin ich. Verzeihen Sie mir, dass ich
mich nicht gleich mit vollem Namen vorgestellt habe. Es ist eine
Vorsichtsmaßnahme von mir. Man weiß nie, wer mithört. Ich bin Malherbeau. Amadé
Malherbeau.«
    Â»Nein«, sage ich mit zitternder Stimme. »Nein, das sind Sie
nicht. Das ist nicht möglich. Amadé Malherbeau hat vor zweihundert Jahren
gelebt.«
    Und dann spüre ich, wie ich nach vor kippe. Amadé stößt einen
Schrei aus. Er fängt mich auf und trägt mich durch die Kammer zu einem Bett.
    Was passiert mit mir? Ich fühle mich schwach und hilflos. Es
ist das Qwell. Ich habe zu viel genommen. Aber vielleicht liegt es gar nicht
daran. Vielleicht hat mir jemand etwas in den Wein getan. Ich spüre, wie Amadé
meine Stiefel aufschnürt und sie mir auszieht. Ich habe solche Angst. Was ist,
wenn er derjenige ist, der das getan hat?
    Ich höre eine Uhr schlagen. Die Decke dreht sich über mir.
Amadé beugt sich über mich. Er spricht mit mir, schreit mich an, scheint aber
weit entfernt von mir zu sein. Sein Gesicht verschwimmt, löst sich auf,
verschwindet.
    Ich habe solche Angst. »Hilfe. Hilfe«, flüstere ich.
    Kurz bevor alles schwarz um mich wird.
    Â Â 69  
    Ich höre Musik. Jemand spielt Gitarre. Arbeitet an einer
Melodie. Immer wieder von vorn. Kriegt sie nicht hin. Sie sollte schön sein,
ist es aber nicht. Es nervt. Ich frage mich, wer da spielt. G.? Lili? Ich
wusste gar nicht, dass sie Gitarre spielen.
    Mich juckt es. Am Kinn. Am Hals. Sogar am Ohr. Wahrscheinlich
ist eine Mücke im Zimmer, denke ich, aber das kann nicht sein. Wir haben
Dezember, und alle Mücken sind tot. Ich bin wund. Alles tut mir weh.
    Ich öffne die Augen – mein schmerzender Kopf lässt mich
aufstöhnen – und schließe sie wieder. Was ist letzte Nacht passiert? Mir fällt
ein, dass ich am Eiffelturm war – und was ich dort beinahe getan hätte. Ich
erinnere mich an Virgil und seine Freunde. Den Strand. Die Polizei. Ich weiß
nicht mehr, wie ich heimgekommen bin, aber ich erinnere mich an einen
merkwürdigen Traum über Typen in Kostümen des achtzehnten Jahrhunderts, Leichen
in den Katakomben und an ein Essen im Café Chartres mit Amadé Malherbeau.
    Ich drehe mich um, mache die Augen wieder auf und mir bleibt
fast die Luft weg. Da liegt jemand neben mir. Jemand mit einem ziemlich dichten
Pelz.
    Â»Hey. Wach auf«, sage ich und stupse ihn an.
    Der Typ dreht sich um. Er hat braune Augen und eine lange
Schnauze. Während ich ihn ungläubig anstarre, streckt er die Zunge heraus und
leckt mir übers Gesicht.
    Â»Hey, Mann! Pfui Teufel!«, sage ich und setze mich auf. Es
ist ein Hund. Ein großer, stinkender Hund. Ich rutsche von ihm weg, überzeugt,
dass er der Grund für meinen Juckreiz ist.
    Â»Ist schon gut. Hugo beißt nicht«, sagt eine Stimme, worauf
mir vor Schreck fast das Herz stehenbleibt. »Amadé. Amadé Malherbeau. Erinnern
Sie sich?«, fragt er.
    Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter, während ich
ihn ansehe. »Nein«, antworte ich. »Tue ich nicht.«
    Aber ich erinnere mich. Ich will es bloß nicht. Weil ich
dachte, ich hätte alles bloß geträumt,

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