Das Blut der Lilie
Damit kriege ich sicher mehr Aufmerksamkeit.
Ich spiele um mein Leben und singe dazu. Ich würde mich auf den Kopf stellen
dabei, wenn es sein müsste.
Und dann, wie aus dem Nichts, taumelt ein Betrunkener auf
mich zu. Er hat blondes Haar und einen stoppeligen Bart. Schwankend bleibt er
eine Weile vor mir stehen und hört zu. Dann beugt er sich vor und drückt mir
einen nassen Kuss auf den Mund. Er schmeckt wie verfaulter Fisch.
»Weg mir dir!«, kreische ich und mache mich los.
Taumelnd weicht er zurück, lacht, und wirft mir eine Handvoll
Münzen zu.
»Ich wollte immer schon mal eine Wilde küssen!«, sagt er. »Wo
kommst du her? Aus Afrika? Amerika? Ich mag deine Zöpfe. Bist du eine
Mohikanerin? Ich hab noch nie so wilde Musik gehört. Los, spiel für mich,
Pocahontas! Oder besser noch«, fügt er hinzu, »komm mit. Du wirst es nicht bereuen.
Mein Name ist Nicolas. Nicolas LeBeau. Wie heiÃt du, du süÃes kleines Biest?«
Ich reibe mir immer noch über den Mund ab, als der kleine
blinde Junge herbeistürzt und anfängt die Münzen einzusammeln.
»Hey! Die gehören mir«, brülle ich ihn an.
Der Kleine sagt, dass ich mich zum Teufel scheren könne, und
sammelt weiter die Münzen auf. Ich bücke mich und versuche, mir wenigstens noch
ein paar davon zu sichern. Leider die falsch Bewegung. Der Besoffene hat
Freunde. Einer packt mich von hinten. Ich wirble herum, um ihm eine zu
scheuern, aber er erwischt meine Hand, reiÃt mich an sich und küsst mich. Der
andere wirft eine Münze in meine Hose und probiert, sie wieder herauszuangeln.
Ich hole mit meiner Gitarre aus und treffe den ersten Kerl am
Kopf. Er fasst sich an die Nase und heult auf, was den anderen so sehr zum
Lachen bringt, dass er mich loslässt. Ich raffe schnell meine Sachen zusammen,
klappe meinen Koffer zu und renne davon.
Ich renne, bis ich aus den Höfen heraus und unter den
Kolonnaden bin. Ich habe das Palais schon fast hinter mir gelassen â ich kann
die groÃen weiÃen Säulen am Eingang und die StraÃe davor sehen â, als ein
anderer Mann aus dem Dunkel tritt und mich festhält. Ich versuche zu schreien,
aber er drückt mir die Hand auf den Mund und zieht mich in einen Hauseingang.
Ich wehre mich, trete mit den FüÃen nach ihm und versuche, mich loszureiÃen.
»Uuh! Das hat weh getan! Hör auf, du Narr. Ich binâs,
Fauvel!«
Ich erstarre. Den Namen kenne ich. Fauvel ist der Mann, von
dem Alex die Feuerwerkskörper kaufte.
»Hör auf zu treten und ich lass dich los«, sagt er.
Ich nicke. Er lässt mich los, und ich drehe mich schnell um.
Im Dunkeln stehen wir einander gegenüber. Atemlos vom Rennen und Kämpfen,
schnappe ich nach Luft.
»Ich muss mich beeilen«, sagt er. »Ich darf hier nicht
gesehen werden.« Ãber seiner Schulter hängt ein Sack. Er öffnet ihn, nimmt ein
in Zeitungspapier eingeschlagenes Bündel heraus und reicht es mir. Ich mache es
auf. Es enthält Feuerwerkskörper. Raketen aus Pappkarton. Und Holzstäbe.
Als ich zu ihm aufblicke, wird mir klar, dass er glaubt, ich
sei sie â Alex.
»Zwei Dutzend. Wie abgemacht. Das nächste Mal will ich
bessere Bezahlung«, raunt er mir zu. »Es wird schwieriger, weiÃt du.
Schwieriger, Schwarzpulver zu kriegen. Oder Salpeter. Ich muss den Mann
schmieren, der es aus den Munitionsdepots stiehlt.« Sein Blick streift über die
Wunde an meiner Stirn. »Du bist verletzt worden vor ein paar Tagen, stimmtâs?
Das steht zumindest in den Zeitungen. Sei auf der Hut. Du bist lebendig weitaus
mehr wert für mich als tot. Bring mir mehr Juwelen â aber gutes Zeug. Und eine
Handvoll Goldmünzen. Ich hab ein schönes Haus im Auge. Es hat einem Marquis
gehört.«
Wir hören Schritte auf zu kommen. »Ich hab mich schon zu
lange hier aufgehalten«, sagt Fauvel. »Ich muss fort.«
Im selben Moment geht ein Zeitungsjunge vorbei und verkündet
laut schreiend die neuesten Schlagzeilen. Bonaparte hat die Belohnung für die
Ergreifung des Grünen Manns, tot oder lebendig, auf dreihundert Francs erhöht.
Fauvel kneift die Augen zusammen. »Hab ich gesagt, eine
Handvoll Louis dâor?«, fragt er. »Bring lieber einen ganzen Sack voll.«
»Wer ist der Grüne Mann? Wer ist der Grüne Mann?«, plärrt der
Zeitungsjunge, als er an uns vorbeigeht. Seine Worte klingen wie
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