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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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dankte
ihm für seine Gastfreundschaft. Er nahm mich kaum wahr. Ich hatte versucht, ihm
Fragen zu stellen, wie etwa: Wo sind Sie geboren? Warum haben Sie aufgehört
fürs Theater zu schreiben? Wann haben Sie Ihre neuartige, geniale Harmonielehre
entwickelt? Aber er scheuchte mich weg. Er lauschte der Musik auf dem iPod. Das
hatte er die ganze Nacht getan, ohne sich einen Moment Schlaf zu gönnen. Ich
besaß nicht den Mut, ihm zu sagen, dass dem Automaten in einem oder zwei Tagen
der Saft ausgehen würde.
    Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg. Durch
die Straßen von Paris. Zu der Kirche. In die Krypta und durch den langen kalten
Tunnels in die Katakomben.
    Jetzt gerade werfe ich wieder einen Blick auf Virgils Karte
und suche den Teil, in dem sich die Madeleine-Kirche befindet. Seine Zeichnung
deutet darauf hin, dass der Tunnel, der von der Kirche nach unten führt,
blockiert ist. Wahrscheinlich wird er das in ein paar Hundert Jahren sein, aber
jetzt ist er offen. Ich stehe schließlich darin. Mit dem Finger folge ich
seinen Verlauf. Nach der Blockade geht der Tunnel weiter, er gabelt sich,
zweigt ein paar Mal ab, läuft unter dem Fluss entlang und führt schließlich zum
Strand.
    Ich weiß nicht, warum das alles passiert ist. Ich weiß nicht,
warum ich hier bin. Ich weiß nicht, warum sich alles so anfühlt, riecht und
schmeckt, als wäre es real, obwohl das unmöglich der Fall sein kann. Aber das
ist mir egal. Ich will nur dorthin zurückzukehren, wo ich hergekommen bin. Ins
einundzwanzigste Jahrhundert. Zu Virgil. Also versuche ich, dorthin
zurückzugehen, wo alles angefangen hat – zum Strand.
    Â»Virgil?«, rufe ich jetzt voller Hoffnung. »Hallo, Virgil,
bist du da?«
    Die einzige Antwort ist mein zurückhallendes Echo. Er ist
nicht da. Ich bin allein. Wie immer. Mit ihm zusammen war ich nicht allein. Was
sich unsinnig anhört. Natürlich war ich in seiner Gesellschaft nicht allein,
aber die Sache ist die, dass ich mich gewöhnlich dann am einsamsten fühle, wenn
ich mit jemandem zusammen bin.
    Ich gehe weiter und leuchte mit der Taschenlampe auf den Weg
vor mir. Es ist still hier unten. Ich höre Wasser tropfen, Ratten pfeifen und
den Klang meiner Schritte – das ist alles. Das Terrain fällt ab und steigt
wieder an. An manchen Stellen muss ich mich ducken, eine Quelle umgehen, über
Steinhaufen steigen, die von eingestürzten Mauern stammen. Nachdem ich mich
etwa eine halbe Stunde lang vorwärts gearbeitet habe, finde ich den ersten
Ausgang auf Virgils Karte – Saint-Roch, eine Kirche im Viertel Saint-Honoré. An
den Namen der Kirche erinnere ich mich aus Alex’ Tagebuch. Sie betrat und
verließ die Katakomben durch Saint-Roch. Ich beschließe, das nachzuprüfen.
Vielleicht muss ich gar nicht den langen Weg bis zum Strand gehen, vielleicht
gibt es eine Abkürzung. Ich steige eine schmale, in den Kalkstein gehauene
Treppe hinauf. Am Ende ist ein Tor, ein kunstvoll verziertes Eisengitter. Ich
versuche, es zu öffnen, aber es ist verschlossen. Ich leuchte durch die Stäbe
und kann an den Statuen und Kreuzen, an den Spinnweben und dem Staub erkennen,
dass das Tor zu einer Art Lagerraum führt. Ich sehe mich nach Glühbirnen an der
Decke, nach einem Staubsauger, nach irgendeinem Anzeichen modernen Lebens um –
aber da ist nichts.
    Â»Das liegt daran, dass es ein altes, verlassenes Gewölbe ist.
Niemand kommt mehr hier herunter«, rede ich mir ein. Und versuche, es zu
glauben.
    Ich gehe in den Tunnel zurück und bewege mich weiter nach
Osten. Es ist schwer, sich zurechtzufinden, weil es wirklich stockdunkel hier
unten ist. Virgil hat auf seiner Karte mehr Tunnel eingezeichnet, als ich
finde. Aber die Hauptstränge sind vorhanden, und denen folge ich. Hoffentlich.
Nach nur etwa fünfzehn Minuten komme ich in ein Gewölbe, das ich für einen der
Keller des Louvre halte. Was gut ist, denn es bedeutet, dass ich immer noch in
östlicher Richtung unterwegs bin, mich aber gleichzeitig auch nach Süden
voranarbeite.
    Nicht gut ist allerdings, was ich in dem Gewölbe finde. Auf
Eis gelagertes Fleisch. Milch in Krügen, nicht in Tüten. Eier in Körben. Tote
Hühner, die von der Decke hängen. Ich bin immer noch im achtzehnten
Jahrhundert. Stimmen und Schritte machen mir Angst und treiben mich in die
Tunnel zurück.
    Ich gehe weiter. Unter dem Fluss hindurch. Kaltes,

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