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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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krieche ich in Amadés Bett.
Ich bin so müde, dass es weh tut.
    Als ich die Decke über mich ziehe, nimmt Amadé die Ohrstöpsel
heraus. Er versucht zu sprechen, kriegt aber nichts heraus. Er wischt sich über
die Augen und sagt dann: »Wann hat er das geschrieben?«
    Â»Das hat er noch nicht. Aber er wird es. 1804 wird er es
fertiggestellt haben und das Stück Napoléon Bonaparte widmen.«
    Â»Bonaparte, dem Soldaten?«, fragt Amadé und wirkt geschockt.
»Woher wissen Sie das?«
    Â»Das weiß jeder. Das steht in Amerika in jedem Geschichtsbuch
für die zehnte Klasse«, murmle ich erschöpft.
    Â»Ich verstehe nicht.«
    Â»Ja, ich weiß. Ich versteh’s ja auch nicht«, antworte ich.
»Hören Sie, Amadé, ich glaube irgendwas ist passiert, als ich letzte Nacht mit
Ihnen durch die Katakomben gelaufen bin. Ich war in Paris – im Paris des einundzwanzigsten
Jahrhunderts. Jetzt bin ich im achtzehnten.«
    Amadé sieht mich an. »Sie haben zu viel getrunken. Das ist
passiert. Dann sind Sie gestürzt und haben sich den Kopf angeschlagen.«
    Â»Nein, es ist mehr als das. Es muss noch etwas anderes
passiert sein, auch wenn ich nicht weiß, was.«
    Aber er hört mir nicht mehr zu. Er ist wieder bei Beethoven.
Ich möchte ihn beobachten, mich an seiner Freude erfreuen, aber mir fallen die
Augen zu.
    Während ich daliege, wird mir klar, dass ich hier mit Amadé
Malherbeau zusammen bin, dem Gegenstand meiner Abschlussarbeit, und dass wohl
kein besseren Zugang zu den Primärquellen denkbar ist. Falls er morgen noch da
ist, wenn ich aufwache – beziehungsweise falls ich morgen noch hier bin –, muss
ich ihm tausend Fragen stellen.
    Â»Nein! Es ist vorbei«, ruft er plötzlich. Er rennt zur mir
herüber und reicht mir den iPod. »Mehr, bitte.«
    Ich nehme seine Hand, strecke seinen Zeigefinger aus und
zeige ihm erneut, wie er selbst Stücke anklicken kann. »Suchen Sie sich was
aus.«
    Er klickt auf das Register. Erwischt Jane’s Addiction. Ritual De Lo Habitual.
    Â» Warten
Sie, Amadé, Sie haben zwei Jahrhunderte übersprungen«, sage ich. »Das würde ich
an Ihrer Stelle nicht tun.«
    Aber es ist zu spät. Die Ohrstöpsel sind bereits drin. Er hört
ein paar Sekunden zu, dann reißt er sie raus.
    Â»Das soll die Musik der Zukunft sein?«, fragt er mit weit
aufgerissenen Augen.
    Â»Ja.«
    Â»Dann ist die Zukunft ein sehr seltsamer Ort.«
    Â»Sie ist nichts verglichen mit der Vergangenheit«, murmle
ich.
    Dann schlafe ich endlich ein.
    Â Â 73  
    Tote können nicht aufstehen und einem nicht nachrennen. Sie
    können sich überhaupt nicht bewegen. Richtig?
    Warum bewegt dann die in dem grünen Kleid ihren Arm?
    Ach so. Siebewegt ihn ja gar nicht. Wie dumm von mir. Es ist
eine Ratte. Eine fette braune Ratte, die daran zerrt. Daran nagt. Fleischstücke
herausreißt und sie hinunterschlingt.
    Uff. Ich fühle mich viel besser. Ich bin glücklich. So
glücklich, dass ich zu lachen beginne. Wie eine Irre. Ich kann gar nicht mehr
aufhören. Bis ich nach Luft schnappe, hyperventiliere, und mich anschreie,
still zu sein und weiterzugehen, bevor die Totengräber mich hier unten finden
und sehen, wie ich schaukelnd in einer Ecke sitze.
    Ich konnte die Toten riechen, bevor ich sie sah, aber diesmal
war ich vorbereitet. Ich hatte Amadés kleines Säckchen mit Zimt und
Orangenschale dabei. Das half ein bisschen gegen ihren Gestank. Gegen ihren
Anblick half es nicht. Es sind so viele. Hunderte. Tausende. Überall Leichen
ohne Köpfe – in kleinen Kammern gestapelt, entlang der Wände aufgeschichtet.
Wie viele Menschen hat Robespierre umgebracht?
    Sobald ich an ihnen vorbei bin, bleibe ich stehen und leuchte
mit meiner Taschenlampe auf die Karte der Katakomben, die Virgil gezeichnet
hat. Ich hatte sie kurz vor der Polizeirazzia am Strand in meine Tasche
gesteckt und dann vergessen, dass ich sie bei mir trug. Heute Morgen habe ich
sie jedoch wiedergefunden, als ich meine Tasche nach Kopfschmerztabletten
durchsuchte. Ich studierte sie, dann fragte ich Amadé, wie man die Krypta
findet, aus der wir mit seinen Freunden herausgekommen waren.
    Er sagte, sie sei in der Kirche Sainte-Marie-Madeleine und
ermahnte mich aufzupassen, dass mich keiner beim Hineingehen beobachtete. Ich
aß ein Salamibrot zum Frühstück, zog mich an, packte meine Sachen und

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