Das Blut der Lilie
Hohn.
»Wer ist der Grüne Mann? Wer ist der Grüne Mann?«, hallt das
Echo durch den langen Bogengang.
Fauvel kichert in sich hinein. Er hebt die Hand in der
Dunkelheit und deutet â auf mich.
  72 Â
»Bitte, Amadé. Nur für eine oder zwei Nächte.«
»Nein.«
Ich hocke vor seiner Tür. Es ist spät. Mir ist kalt. Ich habe
stundenlang auf ihn gewartet, aber er ist gerade erst nach Hause gekommen. Er
trägt ein rotes Band um den Hals und riecht nach Alkohol.
»Ich bin auch ganz still. Und zerschlage nichts mehr, das
schwöre ich.«
»Verschwinden Sie.«
Ich stehe auf, gehe aber nicht aus dem Weg. »Ich habe Essen.
Eine ganze Menge. Genug für uns beide«, sage ich, öffne meine Tasche und ziehe
eine Salami, ein groÃes Stück Käse und einen Laib Brot heraus. Einen
Truthahnschlegel und einen Korb Erdbeeren habe ich bereits verputzt. Das Essen
habe ich mit der Münze gekauft, die mir der eine der Besoffenen in die Hose
hatte fallen lassen.
Er schiebt mich beiseite und steckt den Schlüssel ins
Schloss.
»Ich gebe Ihnen die Salami. Die ganze«, sage ich.
»Ich will sie nicht.«
Der Schlüssel dreht sich. Die Tür geht auf. Ich greife in
meine Tasche und krame darin herum. Ich biete ihm Kaugummi, einen
Kugelschreiber, meine Taschenlampe an. Ich muss in seine Wohnung. Mich an ein
Feuer setzen.
»Ich will nichts von Ihnen. Ich will bloÃ, dass Sie
verschwinden«, antwortet er und geht hinein.
»Mir ist so kalt. Ich sterbe, wenn ich mich nicht aufwärmen
kann.«
Er schickt sich an, die Tür zu schlieÃen. In dem Moment
ertaste ich den iPod in meiner Tasche.
»Warten Sie«, sage ich und strecke ihn ihm entgegen. »Ich
gebe Ihnen das hier. Das ist ein Musikautomat. Genau der gleiche wie in den
Katakomben. Erinnern Sie sich?«
Er reiÃt die Augen auf, will danach greifen, aber ich ziehe
die Hand zurück.
»Also gut«, sagt er und öffnet die Tür. »Sie können bleiben.
Aber wenn Sie anfangen, wieder herumzuschreien und Sachen zu zerschlagen,
fliegen Sie endgültig raus.«
»Danke«, sage ich. »Sie werden gar nicht merken, dass ich da
bin. Das schwöre ich.«
Ich gebe ihm den iPod, stelle meine Essensschätze auf den
Tisch und verstaue meine Tasche und Fauvels Bündel darunter. Ich frage, ob er
ein Hemd für mich hätte, damit ich meine nassen Kleider ausziehen und zum
Trocknen über eine Stuhllehne hängen kann. Ich mache ein belegtes Brot, zünde ein
Feuer an und lasse mich dann zum Essen nieder. Ich glaube nicht, dass ich
jemals in meinem Leben für etwas so dankbar gewesen bin, wie für die Wärme
dieses Feuers und für dieses belegte Brot.
»Essen Sie doch auch was«, sage ich, mit vollem Mund.
Aber er will nichts essen. Er fummelt an dem iPod herum.
SchlieÃlich gibt er ihn mir und sagt: »Wie zieht man das Ding auf? Wo ist der
Schlüssel?«
»Es gibt keinen Schlüssel«, erkläre ich ihm. »Hier, sehen Sie
â¦Â« Ich zeige ihm, auf welche Taste man drücken muss, um ihn anzustellen.
»AuÃerdem brauchen Sie Kopfhörer«, füge ich hinzu und ziehe ein Paar aus meiner
Jackentasche. »Jetzt. Da ist das Inhaltsverzeichnis, sehen Sie? Was wollen Sie
hören?«
Mein iPod ist voll bis zum Anschlag. Er enthält einen
Durchgang durch die gesamte Musikgeschichte, dank all der Aufgaben, die Nathan
mir gestellt hat. Amadé verfolgt, wie ich im Inhaltsverzeichnis von A zu B klicke.
»Beethoven?«, fragt er. »Der Pianist? Aus Wien?«
»Ja.«
»Ich habe viel Gutes über ihn gehört. Man sagt, er habe ein
paar sehr hübsche Stücke geschrieben.«
»Ja, eines oder zwei. Hier, versuchen Sieâs mal damit.«
Ich klicke die Eroica an, helfe ihm mit den Kopfhörern und
beobachte dann, wie er zuhört. Er schlieÃt die Augen und sein ohnehin schönes
Gesicht wird noch schöner. Er lächelt. Runzelt die Stirn. Nickt. Schnappt nach
Luft. Und bewegt seine anmutigen Musikerhände, als würde er dirigieren. Nach
einer Weile sehe ich Tränen auf seinen Wangen und beneide ihn. Diese Musik zum
ersten Mal zu hören â nicht zerstückelt in einer Film- oder Autowerbung,
sondern vollständig, wie Beethoven es wollte â, muss umwerfend sein.
Ich esse mein Brot auf und lege die restlichen Lebensmittel
auf den Kaminssims, damit Hugo nicht rankommt. Dann
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