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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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wert
ist.«
    In dem Moment bricht jubelnder Beifall aus. Ein
Schinderkarren fährt auf den Platz. Er kommt nur langsam voran, weil immer
wieder Leute seinen Weg versperren, um Dreck auf die Gefangenen zu werfen. Sie
schreien die Unglücklichen an, verspotten sie und lachen sie aus. Überall sind
Gardisten, aber keiner greift ein, um dem schändlichen Treiben Einhalt zu
gebieten.
    Â»Es ist Fouquier-Tinville«, sagt Amadé. »Auf seinen Befehl
starben Tausende auf der Guillotine. Jetzt ist er selbst an der Reihe. Und
seine Handlanger werden ihm folgen. Sie haben kein Erbarmen gezeigt, jetzt
zeigt man keines mit ihnen.«
    Der Karren kommt schließlich vor dem Schafott zum Stehen. Ich
versuche, mich abzuwenden, doch Amadé hält mich fest. Ich sehe zu, wie die
Verurteilten nacheinander die Stufen hinaufgeführt werden. Sie wirken betäubt.
Verzweifelt. Hilflos und hoffnungslos.
    Â»Bitte, Amadé. Ich kann nicht mehr hinsehen. Ich kann nicht
mehr.«
    Â»Ah, das müssen Sie aber. Sie müssen genau aufpassen, damit
Sie wissen, was auf sie zukommt«, sagt er. »Schließlich stehen Sie bald selbst
dort oben.«
    Den Verurteilten werden die Haare abgeschnitten. Ihre Hemden
am Hals aufgerissen. Nacheinander wird jeder auf ein schmales Brett geschnallt.
Das Brett wird gesenkt. Der Kopf in die richtige Stellung gebracht. Die Klinge
hochgezogen, dann fallen gelassen. Die Köpfe rollen. Blut fließt in Strömen die
Maschine hinab. Der Henker hebt den tropfenden Kopf aus dem Korb. Die Augen des
Toten blinzeln. Der Mund zuckt. Dann rührt sich nichts mehr.
    Die Leiche wird auf einen Karren geworfen, dann wird der
Nächste auf das Brett geschnallt. Und der Nächste. Frauen drängen sich um den
Korb und tauchen Taschentücher in das Blut, um sie als Souvenirs zu verkaufen.
Ich rieche das Blut, die Angst und die Schadenfreude, und mir wird schlecht.
Diejenigen, die heute johlen, sind Dieselben, die noch vor ein paar Wochen
geweint haben. Sie sollten es besser wissen. Aber dem ist nicht so. Ich
versuche, mein Gesicht mit den Händen zu bedecken, aber Amadé zwingt mich,
weiter zuzuschauen.
    Â»Werden Sie jetzt aufhören?«, fragt er. Seine Stimme klingt
rau.
    Ich sehe ihn an. Er ist nicht mehr zornig. Er ist nicht böse.
Er weint.
    Â»Werden Sie aufhören?«, fragt er mich erneut.
    Auch mir sind die Tränen gekommen. Ich lehne meinen Kopf an
den seinen. »Nein, Amadé«, flüstere ich. »Das werde ich nicht.«
    Vierzehn wurden guillotiniert. Das sagte er zumindest. Ich
weiß es nicht genau, weil ich nach dem Dritten ohnmächtig geworden bin.
    Â Â 82  
    Heute ist der 8. Juni 1795.
    Der letzte Tag in Louis Charles’ Leben.
    Es ist noch sehr früh. Erst kurz nach Mitternacht und sehr
    dunkel. Nebel steigt vom Fluss auf, und ich kann die Sterne nicht sehen.
    Ich sitze auf dem Dach einer Kirche. Um zu beenden, was Alex
nicht beenden konnte. Während der Abendmesse habe ich mich hineingeschlichen
und hinter einem alten Steinsarkophag versteckt. Ich wartete, bis der Priester
die Kerzen gelöscht und die Tür abgesperrt hatte, dann zog ich meine
Taschenlampe heraus und stieg die Wendeltreppe zum Glockenturm hinauf.
    Jetzt sehe ich auf den Temple hinüber und weiß, dass Louis
Charles dort im Sterben liegt. Allein. Im Dunkeln. Wahnsinnig. Von Schmerzen
geplagt. Voller Angst.
    Und gleichzeitig dreht die Welt sich weiter. Leute schlafen.
Träumen. Schnarchen. Stoßen die Katze vom Bett. Streiten sich. Weinen. Beten.
Sie bleibt nicht stehen, diese Welt. Nicht jetzt in Paris. Nicht Jahre später
in Brooklyn. Sie dreht sich weiter.
    Und ich kann es nicht ertragen. Ich möchte schreien. Heulen.
Den Priester im Pfarrhaus aufwecken. Die Leute in ihren Häusern. Die ganze
Straße. Die Stadt. Ich möchte ihnen von Louis Charles und Truman erzählen. Von
der Revolution. Sie sollen verstehen, dass es nichts gibt, was das Leben eines
Kindes wert wäre.
    Und wenn ich es täte? Wenn ich hier auf dem Dach zu schreien
begänne? Was dann?
    Dann würden die Wachen kommen und mich ins Gefängnis werfen,
und einen oder zwei Tage später würde mein Kopf im Korb liegen. Also schreie
ich nicht. Ich wische mir die Augen ab und mache mich an die Arbeit. Ich tue,
was ich kann.
    Mein Gitarrenkoffer ist schwer. Heute Nacht ist keine Gitarre
darin. Nur Raketen. Ich gab Fauvel alles, was von Alex’ Schatz noch übrig

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