Das Blut der Lilie
schreit: »Malvolio! Du Schurke!«
Von meinem Platz aus am anderen Ende des riesigen Ballsaals,
wo ich mit den anderen Musikern saÃ, sah alles glamurös und dekadent aus, aber
jetzt, so nahe bei den Zuhörern, sehe ich die Pockennarben unter der Schminke,
die krabbelnden Läuse in ihren Perücken und den Schmerz in ihren glasigen
Augen.
»Schön, nicht?«, sagt ein Mann neben mir verträumt.
Aber das ist es nicht. Je länger die Nacht andauert, umso
mehr kommen mir die Leute wie tanzende Puppen, wie Automaten vor. Verloren in
der Zeit.
Kurz nach eins ist die Party zu Ende. Die Musik hört auf. Die
roten Bänder werden abgenommen. Man seufzt, tauscht Küsse aus, und verspricht,
sich bald wiederzutreffen. Alle gehen still hinaus und zerstreuen sich schnell,
sobald sie auf der StraÃe sind.
»Lassen Sie uns zum Foy gehen«, sagt Amadé zu mir und ein
paar Musikern, die uns begleiten.
Ich zögere. Ich habe mich früher am Abend mit Fauvel
getroffen, ihm eine Schnupftabakdose, einen Ring und sechs Goldmünzen gegeben,
und jetzt habe ich neues Bündel unter Amadés Bett versteckt. Ich werde in seine
Wohnung zurückkehren und es holen und mich dann auf den Weg zu einem Dach in
der Nähe des Gefängnisses machen.
»Kommen Sie mit?«, fragt er mich.
»Nein, gehen Sie nur. Wir sehen uns daheim auf der Ranch.«
»Wie bitte?«
»Wir sehen uns später.«
Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Wohin gehen Sie?«
»Ich treffe mich mit jemandem.«
»Mit wem?«
Gerade, als ich ihm eine handfeste Lüge auftischen will, sagt
Stéphane, einer der Musiker, über mich hinweg:
»Glauben Sie, wir kriegen heute Nacht wieder ein Feuerwerk
geboten, Deo?« Eine Frau hängt an seinem Arm. Er stellt sie als Mademoiselle
dâArden vor.
»Sie sind schön, diese Feuerwerke, nicht?«, sagt sie
kichernd.
»Man munkelt, sie seien für den kleinen Prinzen«, fügt
Stépahne hinzu.
»Ein Tribut an den kleinen Gefangenen. Wie tragisch. Wie
schön«, sagt die Frau. Sie ist betrunken und blöd.
»Nein, es ist nicht schön«, widerspreche ich verärgert. »Er
ist krank. Und stirbt auf entsetzliche Weise.«
»Unsinn! Ich habe gehört, der Junge wird gut behandelt und
bald entlassen«, wirft Mademoiselle dâArden ein.
»Ach ja? Wo haben Sie das denn gehört?«, frage ich.
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich weià nicht
mehr. Aus Zeitungen. Von meinen Nachbarn. Von irgendwoher.«
»Freunde, Freunde!«, sagt Stéphane. »Was zählt, ist doch,
dass alles besser wird. Der Terror ist vorbei. Beendet. Er wird uns nicht mehr
heimsuchen.«
»Das wird er doch«, widerspreche ich. »Immer und immer
wieder.«
»Das stimmt natürlich«, sagt jemand anderes. »Bloà weil ein
Irrer weg ist, heiÃt das nicht, dass es keine anderen mehr gibt. Ganz richtig,
Maximilien Robespierre ist tot. Und Marat. Saint-Juste. Hébert. Aber es gibt
immer Neue, die in den Kulissen warten. Die Geschichte speit ständig solch
machthungrige Ungeheuer aus. Und wegen solchen Leuten, muss dieser kleine Junge
leiden.«
Ich denke an einen anderen Max. Und an einen anderen kleinen
Jungen. Ich erinnere mich an die Zukunft. »Maximilien R. Peters! Nicht
korrumpierbar, unausweichlich und unbezwingbar! Höchste Zeit für die
Revolution, Baby!«, rief er. Ich erinnere mich an die anderen Leute, die mit
ihm im Charles wohnten. Arme, gebrochene Leute. Ich denke daran, wie ich jeden
Tag an ihnen vorbeiging, ohne sie wahrzunehmen, ohne mich um sie zu kümmern.
Bis es zu spät war.
Und dann denke ich daran, wie sich diese Leute, Amadés
Freunde, die ganze Nacht lang mit manierierten Tänzen und geistreichen
Unterhaltungen vergnügt und von der Welt abgeschottet haben, während ein
hilfloses Kind langsam stirbt.
Und ich erwidere: »Nein, der Junge leidet nicht wegen
Robespierre und Marat. Oder anderen Leuten ihres Schlags. Sondern wegen Leuten
wie uns.«
Darauf tritt Schweigen ein.
»Bis später, Deo«, füge ich hinzu und entferne mich von
ihnen. In die Dunkelheit hinein.
  80 Â
Ich habe mir die rechte Hand verbrannt, und sie tut höllisch
weh. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich wimmere, während ich die Treppe
zu Amadés Wohnung hinaufgehe. Ich wimmere, weil ich Angst habe, mich so schlimm
verletzt zu haben, dass ich nicht
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