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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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geht’s gut, Lili. Wirklich«, antworte ich erneut und
zwinge mich zu einem Lächeln. Ich will nicht darüber sprechen. Ich will nicht
losheulen in ihrem Flur. Die lange Reise hat mich müde gemacht und betäubt, und
so möchte ich bleiben. So ist es leichter. Ich frage sie, wo ich meine Jacke
hinhängen kann. Sie rät mir, sie anzulassen. Die Heizung sei launisch, und der
offene Kamin helfe nicht viel.
    Bis zum Abendessen dauere es noch eine Stunde, fügt sie hinzu
und reicht mir ein Tablett mit Gläsern und einer Flasche Wein. Ich bringe es zu
meinem Vater und G. hinüber, die ein paar Meter entfernt von der großen offenen
Küche an einem langen Holztisch sitzen. Ich gieße Wein für sie ein, aber sie
sehen Papiere und Fotos durch und blicken nicht einmal auf.
    Â»Der Mémorial de France stellt uns für den Test nur ein ganz
winziges Stück zur Verfügung«, sagt G. zu meinem Vater. »Nur die äußerste
Spitze. Etwa ein Gramm insgesamt.«
    Â»Ein Gramm für drei Labore?«, fragt mein Vater besorgt. »Sind
Brinkmann und Cassiman damit einverstanden?«
    Â»Das müssen sie. Wir kriegen nur, was man uns gibt. Nicht
mehr.«
    Dad hat mir nicht viel erzählt über die Arbeit, die er hier
zu erledigen hat. Nur, dass G. mit irgendeiner Adelsvereinigung
zusammenarbeitet und ihn gebeten hat, nach Paris zu kommen, um DNA -Tests für sie durchzuführen. Was mir ziemlich
übertrieben vorkommt. Als würde man Stephen Hawking bitten zu erklären, wie ein
Flaschenzug funktioniert.
    G. und Dad unterhalten sich weiter, also inspiziere ich das
Loft. Während ich herumgehe, muss ich mich zwischen Kartons und Kisten
durchschlängeln, zwischen Marmorbüsten, einem ausgestopften Affen, einer
Wachspuppe, einer Sammlung von Musketen, die aufrecht in einem alten Fass
stehen, und einem großen Uhrenblatt. Ich sehe einen aus Haaren geflochtenen
Kranz, bemalte Teekisten, Ladenschilder, Glasaugen und eine Schachtel, die mit
einem roten Band verschlossen ist. »Letzte Briefe von Verurteilten, 1793«steht in
altmodischer Schrift darauf. Ich öffne die Schachtel und nehme vorsichtig einen
Brief heraus. Das Papier ist brüchig. Die Handschrift schwer zu entziffern.
Genauso wie das alte Französisch.
    Lebt
wohl, meine Frau und Kinder, für immer. Ich bitte dich, meine Kinder zu lieben
und ihnen oft zu erzählen, wer ich war, liebe sie für uns beide … Ich beende
heute meine Tage …
    Ich nehme einen anderen: Mein letztes Hemd ist schmutzig, meine
Strümpfe verfaulen, meine Hosen sind fadenscheinig, ich sterbe vor Hunger und
Langeweile … Ich werde nicht mehr schreiben, die ganze Welt ist
verabscheuungswürdig. Leb wohl!
    Und einen Dritten: Ich weiß nicht, meine kleine Freundin, ob es
mir gelingt, dich noch einmal zu sehen oder dir noch einmal zu schreiben. Denke
immer an deine Mutter … Leb wohl, geliebtes Kind … Die Zeit wird kommen, wenn
du in der Lage sein wirst zu beurteilen, welche Kraft es mich im Moment kostet,
nicht in Tränen auszubrechen im Gedenken an dich. Ich drücke dich an mein Herz.
Leb wohl …
    Mein Gott, was für ein Horror. Ich kann nicht weiterlesen,
lege die Briefe zurück, mache den Deckel zu und stöbere weiter herum. Auf dem
Boden steht eine Spielzeug-Guillotine mit Henker, Opfer und dessen
Papiermaschee-Kopf, der schockiert aus einem winzigen Weidenkörbchen starrt.
Auf einem Regal steht ein Paar Schuhe aus blauer Seide mit juwelenbesetzten
Schnallen. Verblichene und zerrissene rot-weiß-blaue Fahnen hängen an einer
Wand. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«steht darauf, »Lang lebe die
Republik«. Männer und Frauen mit gepudertem Haar starren mich aus vergoldeten
Rahmen an. Es gibt ein Gemälde von der Hinrichtung Ludwigs XVI . und eine schreckliche Zeichnung von einem Mann, der
an einem Laternenpfahl hängt und mit den Füßen strampelt.»Ein Verräter tanzt die
Carmagnole« lautet der Titel. Alte Bücher stapeln sich auf Tischen und Stühlen.
Von einem Schrank grinst ein Totenschädel herunter.
    Diese Dinge sind nicht still. Sie sind unruhig. Wenn ich sie
betrachte, kann ich die Fischweiber – singend, spuckend und nach Brot schreiend
– auf ihrem Marsch nach Versailles sehen. Ich kann die Menge bei der Hinrichtung
des Königs jubeln und das Blut von dessen Hals tropfen hören. Ich greife
hinauf, berühre den Saum

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