Das Blut der Lilie
ich mich an die Arbeit. Die Wirbel lassen sich nur schwer drehen. Die
Bünde sind verdreckt. Das Holz ist matt.
Lili bringt eine neue Flasche Wein und verschwindet wieder in
der Küche. Als sie schlieÃlich â eine Stunde später â die Teller und das
Besteck bringt, ist die Gitarre frisch gewachst und hat neue Saiten. Ich stimme
sie, und als ich damit fertig bin, sagt G.: »Spiel was für uns!«
Immer noch unsicher, blicke ich zu ihm auf.
»Sie hat die Revolution überlebt, also wird sie dich auch
überleben«, fügt er hinzu.
Ich kann mich nicht entscheiden, womit ich beginnen soll. Ein
solches Instrument zu spielen ist genauso wie mit einem Typen zusammen zu sein,
der so toll ist, dass man ihn überall gleichzeitig küssen will. Ich hole Luft
und fange mit Come
As Your Are an . Dann springe ich in die Zeit von Rameau zurück. Dann zu Bach.
Danach ein paar Melodien von Gomez. Und dann halte ich inne, weil ich schwitze,
keine Luft mehr kriege und mich das Klatschen verblüfft. Weil ich alles um mich
herum vergessen hatte. Ihre Anwesenheit vergessen hatte. Mich selbst vergessen
hatte.
»Brava!«, ruft Lili.
»Encore! Encore!«, sagt G. und klatscht wie verrückt.
Dad klatscht auch. Mit groÃen ausladenden Armbewegungen. Als
zwänge ihn jemand. Ich lege die Gitarre in den Koffer zurück und setze mich zu
ihnen an den Tisch.
»Du hast unglaubliches Talent«, sagt Lili. »Wo wirst du nach
deinem Abschluss dein Studium fortsetzen?«
»Ãhm ⦠Vielleicht an der Juillard oder der Manhattan School«,
sage ich.
G. macht eine wegwerfende Handbewegung. »Vergiss New York.
Komm nach Paris. Ans Konservatorium.«
Ich sehe meinen Vater an, der in sein Weinglas blickt. »Ja,
ähm ⦠vielleicht«, sage ich. »Ich habe noch keine festen Pläne.«
Lili schenkt Wein nach. »Guillaume, das Huhn ist gleich
fertig. Räum bitte das Zeug weg«, sagt sie und deutet mit dem Kopf auf die
Papiere und Fotos.
»Ich mach das«, sage ich und schiebe die Unterlagen zusammen.
Da bleibt mein Blick an einem der Fotos hängen. Ich nehme es in die Hand.
Darauf ist etwas, das aussieht, wie eine alte gläserne Urne. Sie ist eiförmig
und auf einer Seite ist eine Sonne mit einem geschwungenen »L« eingeätzt. In
der Urne liegt etwas. Etwas Kleines und Dunkles. Ich kann den Blick nicht losreiÃen.
»Was ist das?«, frage ich.
G. sieht auf das Foto in meiner Hand. »Ein bewegender
Anblick, nicht?«, sagt er. »Es kommt nicht oft vor, dass wir das Herz eines
Königs betrachten können.«
  12 Â
Ich habe mich wohl verhört. Ganz sicher sogar.
Das Herz eines Königs? Könige haben groÃe Herzen. Mächtige
Herzen. Wie könnten sie sonst Kriege führen und auf Kreuzzüge gehen? Aber
dieses Herz sieht nicht groà aus. Sondern klein und traurig.
»Wir wissen überhaupt noch nicht, ob es das Herz eines Königs
ist, G.«, sagt Dad. »Wenn wir es wüssten, wäre ich nicht hier. Die physischen
Merkmale sagen uns, dass es sich um ein menschliches Herz handelt. Seine GröÃe
zeigt an, dass es einem Kind gehörte. Das ist alles, was wir wissen.«
»Nicht irgendeinem Kind«, sagt G. »Das ist das Herz von Louis
Charles, dem Sohn von Ludwig XVI . und Marie
Antoinette. Dem verlorenen König Frankreichs.«
»Das glaubst du«, sagt Dad.
»Das weià ich, das sagt mir schon mein Instinkt«, erwidert G.
»Auf deinen Instinkt kommtâs nicht an. Auf die Knochen der
Mutter schon eher â wenn wir die kriegen könnten«, sagt Dad.
»Wenn?«, frage ich. »Könnt ihr das nicht?«
G. schüttelt den Kopf. »Nein. Nach ihrer Hinrichtung wurden
Marie Antoinettes Ãberreste in ein Massengrab geworfen. Eine Dienerin fischte
später heraus, was sie für die Beinknochen der Königin hielt. Es gibt einen
Sarg in der Kathedrale von Saint-Denis, aber â¦Â« â G. zuckt die Achseln â »⦠wer
weiÃ.«
»Was werdet ihr dann hernehmen?«, frage ich.
»Vor ein paar Jahren wurden Tests an einer Haarlocke von
Marie Antoinette vorgenommen, die ihr vor ihrem Tod abgeschnitten und als
Erinnerung aufgehoben worden war. Die Resultate waren gut und sauber, also
greifen wir darauf zurück.«
»Guillaume, Lewisâ Glas ist leer. Schenk ihm nach«, sagt Lili
und stellt einen Brotkorb auf den Tisch.
G.
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