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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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noch, was Dr. Becker gesagt hat.«
    Sicher weiß ich das. Wir waren gestern Morgen in seiner
Praxis. Nachdem wir uns von Mom verabschiedet hatten. Wir ließen sie in ihrem
Zimmer zurück, wo sie sediert auf der Bettkante saß. Sie trug ein rosa
Krankenhaus-Sweatshirt. Sie hasst Rosa. Fast so sehr wie sie Sweatshirts hasst.
    Ich bat Dr. Becker um ihre Zimmernummer, damit ich sie aus
Paris anrufen könnte. Er sagte, es gebe keine Telefone in den Zimmern.
    Â»Wie soll ich sie dann erreichen?«
    Er schenkte mir sein Standardlächeln für Geisteskranke und
erwiderte: »Andi, ich glaube nicht, dass es ratsam wäre …«
    Â»Nicht ratsam.«
    Das Lächeln verschwand. »Ich glaube, es ist nicht ratsam,
dass deine Mutter in den nächsten paar Tagen Anrufe erhält. Vielleicht in einer
Woche, wenn sie sich eingewöhnt und ihre neue Umgebung akzeptiert hat. Ich
denke, du verstehst, dass dies nur zu ihrem Besten ist.«
    Aber ich war nicht einverstanden. Weder mit ihm noch mit
sonst irgendetwas. Ich war nicht einverstanden mit den Spritzen und Pillen, den
pfirsichfarbenen Wänden, den Blumenvorhängen oder dem Bild an der Wand. Vor
allem mit dem Bild war ich nicht einverstanden.
    Â»Das müssen Sie abnehmen«, sagte ich.
    Â»Ich verstehe nicht?«
    Â»Das Bild. Das in ihrem Zimmer an die Wand geschraubt ist.
Das Cottage mit dem purpurnen Sonnenuntergang. Es ist scheußlich. Ein
unerträglicher Triumph der Mittelmäßigkeit. Wo haben Sie das her? Aus
irgendeinem Kaff in New Jersey?«
    Â»Andi!«, bellte Dad.
    Â»Wissen Sie, worauf sie den ganzen Tag blickt? Wissen Sie,
was an ihrem Arbeitsplatz an der Wand hängt? Cézannes Stillleben mit Äpfeln, van Goghs Blaue
    Emaille-Kanne. Sein Stillleben mit Makrelen …«
    Â»Hör jetzt sofort damit auf«, sagte Dad zu mir. Dann zu Dr.
Becker gewandt: »Tut mir leid, Matt, ich …«
    Â»Nehmen Sie es ab «, sagte ich mit brechender Stimme.
    Dr. Becker hob die Hände. »Okay, Andi. Wenn du möchtest, dass
ich das Bild abnehme, tue ich es.«
    Â»Jetzt sofort.«
    Â»Verdammt, Andi! Mit wem glaubst du wohl zu reden?«, schrie
Dad.
    Â»Ich kann es nicht sofort tun«, antwortete Dr. Becker. »Dazu
brauche ich Leute vom Wartungspersonal. Aber ich gebe dir mein Wort, dass es
abgenommen wird, in Ordnung?«
    Ich nickte steif. Das war immerhin etwas. Ein kleiner Sieg.
Ich konnte meine Mutter nicht vor »Dr. Wohlfühl« bewahren, aber wenigstens vor
Bob Ross.
    Der Verkehrsstau löst sich langsam auf. Wir nehmen
Geschwindigkeit auf, und wenig später kommen wir in die Pariser Vorstadt.
Entlang der Straße in die Stadt reihen sich schäbige Häuser an
Gebrauchtwagenhändler, Falafel-Buden und Friseursalons, deren Reklameschilder
im Dunkeln grell leuchten.
    Â»Es wird dir sicherlich guttun«, sagt mein Vater, als wir auf
den Boulevard Périphérique treffen. »Vielleicht lenkt es dich ein bisschen ab.«
    Â»Was denn?«
    Â»Der Tapetenwechsel. Paris.«
    Â»Ja. Sicher. Mein Bruder ist tot. Meine Mutter verrückt.
Klasse, genehmigen wir uns eine Crêpe.«
    Während der restlichen Fahrt schweigen wir.
    Â Â 11  
    Â»Lewis! Du streitsüchtiger Schuft! Du alter Mistkerl! Du
vertrockneter, bunsenbrennerbenebelter, formaldehydausdünstender Bastard!«
    Das sage nicht ich. Obwohl ich es gern getan hätte. Bei
    zahlreichen Gelegenheiten.
    Sondern G., der Freund meines Vaters – ein kleiner rundlicher
Mann in gelben Jeans, rotem Pullover und mit schwarzer Brille. Er ist ein
Rockstar-Historiker. Ein Widerspruch in sich, aber wahr. Er hat diesen Megabestseller
über die Französische Revolution geschrieben und damit alle großen Preise
abgeräumt. Die BBC hat eine Serie daraus gemacht.
Ang Lee dreht den Film.
    G. und mein Dad haben sich als Studenten in Stanford
kennengelernt. Sein wirklicher Name ist Guillaume Lenôtre, aber Dad sagt »G.«,
weil er ihn zuerst »Gwillomay« nannte. Dann »Geeyom«. Schließlich hat er sich
auf den Anfangsbuchstaben beschränkt.
    G. spricht Französisch mit uns. Mein Vater und ich sprechen
es hier. Ich habe es als kleines Kind gelernt. So hat meine Mutter mit uns
gesprochen – mit mir und Truman.
    Â»Meine Güte! Und wer ist das? …« G.s Blick wandert von meiner
Lederjacke über das Metall zu meinem Haar. Seine fröhliche Stimme

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