Das Blut der Lilie
einer zerrissenen Fahne und wünschte, ich hätte es
nicht getan. Sie fühlt sich staubig und trocken an, wie Asche und alte Gebeine.
Wie etwas Ansteckendes.
Ich will weg von diesem Zeug, kann es aber nicht, weil es
überall ist. Als ich zum Tisch zurückgehe, bleibt mein Fuà an etwas hängen, ich
stolpere über eine Kiste und schlage mir das Knie an. Niemand beachtet mich.
Lili kocht. Dad und G. reden immer noch über ihre Arbeit und würden es nicht
mal mitkriegen, wenn das Dach einstürzte. Ich hüpfe herum, reibe mein Knie und
entdecke, worüber ich gestolpert bin â über einen langen hölzernen Koffer, der
an einen Gitarrenkoffer erinnert.
Auf der Oberseite ist ein schwungvolles Rankenmuster aus
Blättern und Weinreben, aber die Intarsien sind teilweise herausgebrochen und
der Lack ist matt und voller Flecken. Ein abgeschabter Lederriemen ist darum
gebunden. Ich beuge mich auf mein nicht schmerzendes Knie hinunter und sehe,
dass sich der Koffer nicht richtig schlieÃen lässt. Die Zacken der Klappe haben
sich im unteren Teil des Schlosses verklemmt.
Ich öffne die Riemenschnalle, hebe den Deckel leicht an und
mir stockt der Atem: Vor mir liegt die schönste Gitarre, die ich je gesehen
habe. Sie ist aus Rosenholz mit einem Griffbrett aus Ebenholz. Die Rosette und
die Kanten sind mit Intarsien aus Perlmutt, Elfenbein und Silber verziert.
Vorsichtig berühre ich sie, streiche mit den Fingern über das
Holz und die Kanten entlang. Ich schlage die Saiten an, und zwei davon reiÃen.
»Ah! Du hast die Gitarre gefunden!«, sagt G. und blickt von
seinen Papieren auf.
»Es ⦠es tut mir wirklich leid, G.«, stammle ich. »Ich hätte
sie nicht anfassen sollen.«
»Unsinn! Sie ist beeindruckend, nicht?«, sagt er und kommt
herüber. »Es ist eine Vinaccia. Siehst du den Namen im Innern des Körpers? Sie
wurden im späten siebzehnten Jahrhundert in Italien gebaut. Ein sehr seltenes
Exemplar. Und ein sehr teures. Das Schloss ist aus Silber. Leider ist es
kaputt. Ludwig XVI . besaà eine solche Gitarre. Es
gibt ein Gemälde, auf dem er mit dem Instrument abgebildet ist.«
»Woher hast du sie?«
»Ich hab sie vor dreiÃig Jahren einem Mann abgekauft, der sie
in den Katakomben gefunden hat. Einem Arbeiter. Einer der Tunnel war eingestürzt.
Was viel Schaden angerichtet hat. Die Männer, die runtergingen, um die Trümmer
wegzuräumen und alles neu abzustützen, fanden eine kleine Kammer. Der Zugang
war lange verborgen gewesen â durch aufgeschichtete Knochen. Die Gitarre lag
unter zahllosen Skeletten. Denen der Kopf fehlte. Was auf die Zeit der
Terrorherrschaft hinweist. Man sollte meinen, die Gitarre hätte total hinüber
sein müssen, nachdem sie zwei Jahrhunderte unter der Erde gelegen hatte, aber
nein. Vielleicht hat die kühle Luft sie konserviert. Ich hab fünfhundert Francs
dafür bezahlt. Eine stolze Summe, vor allem für die damalige Zeit, aber nichts
verglichen damit, was sie heute wert ist. Spiel darauf, Andi.«
Ich schüttle den Kopf, aus Angst das Instrument könnte
zerbrechen oder zu Staub zerfallen, wenn ich es noch einmal berühre.
»Das geht nicht. Sie ist zu zerbrechlich. Sie muss
restauriert, völlig neu aufgearbeitet werden. Dazu braucht man einen Experten,
der â¦Â«
»Na los, spiel!«, sagt er.
Er will mir helfen. Das weià ich. Vermutlich denkt er, die
Gitarre könnte eine Art Therapie für mich sein. Aber ich bin wirklich schlecht,
wenn es darum geht, mir helfen zu lassen.
»Ist schon gut«, sage ich. »Wirklich. Ich meine, ich hab
meine eigene Gitarre dabei. Ich brauch die hier nicht.«
G. nimmt die Gitarre aus dem Koffer und reicht sie mir.
»Vielleicht braucht sie dich«, sagt er.
Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich fühle mich überrumpelt.
Gewöhnlich bin ich die Letzte, die von jemandem gebraucht wird.
»Ja. Ãhm ⦠okay«, sage ich.
Ich lege die Gitarre wieder in den Koffer, hole meine Tasche,
und während ich zurückeile, komme ich mir vor wie Gollum mit seinem Schatz,
voller Angst, G. könnte plötzlich zu sich kommen und ihn mir wieder wegnehmen.
Aber er und mein Vater sind erneut in ihre Papiere vertieft. Also packe ich
meine Ersatzsaiten aus und ein Täschchen mit Gitarrenutensilien â Nussöl,
Reinigungsmittel, Schmiermittel, Stimmschraube, Wachs und Poliertücher. Dann
mache
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