Das Blut der Lilie
schenkt sich selbst und meinem Vater nach. Er bietet auch
mir ein Glas an, aber ich schüttle den Kopf und lehne ab.
»Wo kommt denn das Herz überhaupt her?«, frage ich ihn, noch
immer auf das Foto starrend. »Ich meine, wie kam es in diese Urne?«
G. sieht meinen Vater an. »Hast du ihr nichts davon erzählt?«
»Doch. Gerade eben habe ich ihr alles Wesentliche gesagt.
Das, was wir mit Sicherheit wissen.«
»Und das wäre? Dass es ein Herz ist?«
»Ja.«
»Lewis, Lewis, Lewis«, seufzt G. »Komm, Andi. Setz dich«,
sagt er und rückt einen Stuhl unter dem Tisch vor. »Es ist eine faszinierende
Geschichte. Ich werde sie dir erzählen.«
»G., ich glaube nicht, dass Andi sie hören will â¦Â«, beginnt
mein Vater.
»Doch, das will ich«, erwidere ich verärgert, weil er für
mich antwortet.
Er schenkt mir einen gequälten Blick, dann nickt er. »Also gut«,
sagt er. »Aber keine Geschichten, G. Nur die reinen Fakten. Hintergründe und
Spekulationen sind irrelevant.«
G. lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Also sind meine
Arbeiten und die von Aulard, Lefèbre, Schama, Carlisle und unzähliger anderer
Historiker ⦠bloà Geschichten?«, fragt er aufgebracht. »Die zeitgenössischen
Berichte? Die Briefe und Hinterlassenschaften, die Gefängnisakten? Alles bloÃ
Vergangenheit und Spekulation?«
Mein Vater nimmt mir die Fotos weg und schiebt sie ans
hinterste Tischende. »Ein menschliches Herz besteht nicht aus Geschichten«,
sagt er.
»Jedes Herz besteht aus Geschichten«, erwidert G.
»Ein Herz besteht aus Proteinen, die aus Aminosäuren
aufgebaut sind und durch elektrische Impulse animiert werden.«
G. schnaubt. »Deine hübsche junge Freundin, Minna, die liebst
du doch von ganzem Herzen, oder ist eine zufällige Mischung von Aminosäuren
dafür verantwortlich?«
Dad wird rot. Er wird wütend. Weil seine hübsche â und
schwangere â neue Freundin fünfundzwanzig ist. »Aminosäuren haben nichts
Zufälliges an sich«, erwidert er aufgebracht, »Liebe oder jede andere Emotion â
sosehr wir sie auch glorifizieren wollen â ist nichts anderes als eine Reihe
chemischer Reaktionen.«
G. lacht. Er stupst mich an. »Genau deswegen hab ich ihn an
Bord geholt!«, sagt er. »Weil der Mann keinen Funken Phantasie hat. Er ist
exakt und objektiv, und das weià alle Welt.«
»Was für ein Unsinn, Guillaume«, sagt Lili und stellt eine
Kasserolle auf den Tisch. »Du hast ihn an Bord geholt, weil er ein berühmter,
mit dem Nobelpreis ausgezeichneter Wissenschaftler ist, weil sein Bild in allen
Zeitungen sein wird und du nichts mehr liebst als Publicity.«
»Ich brauche Publicity, meine Liebe. Das ist der Unterschied.«
»Und ich muss jetzt das Essen auftragen. Vielleicht hättest
du die Güte, mir zu helfen?«, erwidert Lili scharf.
»Ich helfe dir«, sagt Dad und folgt ihr in die Küche.
»Stimmt das, G.? Macht Dad aus Publicity-Gründen hier mit?«
Das hört sich so gar nicht nach meinem Vater an. Er ist berühmt, aber das ist
ihm egal. Alles, was für ihn zählt und ihm wichtig ist, ist seit jeher seine
Arbeit.
»Ja, das stimmt«, antwortet G. »Aber es geht um mein
Interesse an Publicity, nicht um seines. In dem Museum ist eine ständige
Ausstellung über die Geschichte dieses Herzens und seine wissenschaftliche
Erforschung geplant. Dein Vater weiÃ, wie viel mir das Museum bedeutet.
Deswegen hat er sich bereit erklärt, seinen Namen für dieses Projekt
herzugeben. Wenn er mitmacht, werden wir garantiert groÃes Interesse wecken.
Bei Zeitungen, beim Fernsehen und im Internet. Und Interesse bringt Geld.«
»Also, wie geht die Geschichte? Du hast sie mir noch immer
nicht erzählt.«
»Nein, habe ich nicht«, antwortet G. »Was du über die
Französische Revolution wissen musst, Andi, ist Folgendes: Obwohl sie stark
genug war, eine jahrhundertealte Monarchie zu stürzen, war sie gleichzeitig
extrem anfällig. Wurde ständig angegriffen. Und diejenigen, die den Aufstand
anführten, diejenigen, die leidenschaftlich daran glaubten, dass die Menschen
etwas Besseres verdienten als die Tyrannei von Königen, versuchten, die
Revolution zu verteidigen. Oft ziemlich rücksichtslos.«
»Ãhm, G.?«, unterbreche ich ihn. »Ich meinte die
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