Das Blut der Lilie
sei eine Guillotine, dann liegst du
richtig«, antwortet G. und wirft die Plane zurück. »Sie wurde vor ein paar
Jahren in einem alten Lagerhaus gefunden. Ich hatte unglaubliches Glück, dass
ich sie kaufen konnte. Es gibt nur noch sehr wenige aus dem achtzehnten
Jahrhundert. Schau dir die effiziente Konstruktion an â ein bisschen Holz, eine
schräge Klinge, das ist alles. Während des alten Regimes wurden zum Tod
verurteilte Adlige geköpft. Einfache Bürger wurden gehängt â was länger dauern
und schmerzhafter sein konnte. Die Revolutionäre wollten Gleichheit in allen
Belangen â selbst im Tod. Egal ob Bettler, Hufschmied oder Marquis â ganz
unabhängig von ihrem Stand sollten alle Feinde der Republik das gleiche Ende
finden. Und zwar eines, das als schnell und human galt. Dieses besondere
Exemplar hier kam sehr häufig zum Einsatz, wie es scheint. Seht ihr?«
Er deutet auf die Vorderseite des Apparats. Das Holz unter
der Stelle, wo der Kopf des Opfers festgehalten wurde, ist rostig braun
verfärbt. Während ich darauf starre, frage ich mich, ob die Leute, deren Kopf
von diesem Ding abgetrennt wurde, auch fanden, ihr Tod sei schnell und human
herbeigeführt worden.
»Auf dem Höhepunkt des Terrors wurden allein in Paris
Tausende guillotiniert«, erklärt er. »Viele aufgrund bloÃer Anschuldigungen,
ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Blut strömte die Rinnsteine entlang. Wortwörtlich.
Die Hinrichtungen waren ein groÃes Spektakel. Es wurden Listen mit den Namen
der Verurteilten des jeweiligen Tages verteilt. Erfrischungen verkauft.
Zuschauer wetteiferten um die besten Plätze und â¦Â«
»Guillaume!«, ruft eine Stimme von oben. »Hör auf Vorträge zu
halten und bring unsere Gäste rauf. Sie sind müde und hungrig!«
Es ist Lili, G.s Frau. Ich erkenne ihre Stimme.
»Sofort, meine Liebe!«, ruft G. zurück.
Wir gehen in den zweiten Stock hinauf. G. fischt auf dem Weg
verschiedene Gegenstände aus Kisten und Kartons. Er zeigt uns
Revolutionsflaggen, ein groÃes Banner, auf dem die Menschenrechte aufgedruckt
sind, und ein altes Wappen mit einer roten Rose, die in der Mitte durchstoÃen
ist und aus der Blut tropft.
»Das stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert«, sagt er. »Es
ist das Wappen der Grafen von Auvergne. Bis zur Revolution hing es in ihrem
Familienschloss, bevor der letzte Graf und seine Frau wegen ihrer Königstreue
hingerichtet wurden. Aus
dem Blut der Rose wachsen Lilien, besagt der lateinische Spruch.
Das Blut der Rose tropft auf die Fleur-de-Lys, die weiÃe Lilie, das Wahrzeichen
der Könige von Frankreich. Die mächtigen Grafen der Auvergne waren immer loyal
ihren Königen gegenüber, kämpften für sie, und gaben manchmal gar ihr Leben für
sie.«
Angezogen vom Duft nach Knoblauch, Huhn und einem Holzfeuer,
steigen wir vom dritten Stock â der Lilis Atelier beherbergt â in den vierten
hinauf. Lili erwartet uns auf dem Treppenabsatz. Sie küsst uns, und während
mein Vater und G. nach drinnen gehen, küsst sie mich noch einmal und umarmt
mich fest. Ich umarme sie auch. Sie trägt zwei zerknitterte Pullover übereinander.
Ihr schwarzes Haar ist grau vor Marmorstaub. Sie führt uns in die Wohnung â ein
groÃes Loft im obersten Stockwerk der alten Fabrik.
»Ich habe mich so gefreut, als Lewis anrief und sagte, du
würdest mitkommen!«, sagt sie. »Er meinte, du wirst an einem Schulprojekt
arbeiten, während du hier bist. Wie spannend!«
»Ja, das ist es. Sehr spannend«, lüge ich.
Sie erkundigt sich nach meiner Mutter, und als ich ihr
erzähle, was passiert ist, steigen ihr Tränen in die Augen. Die beiden waren
Zimmergenossinnen an der Sorbonne. Damals nahm sie meine Mutter zu einer Party
in G.s Wohnung mit. Mein Vater war dort. So haben sie sich kennengelernt. Ich
kenne Lili und G. schon mein ganzes Leben.
»Ach, meine arme Marianne«, sagt sie, wischt sich mit dem
Ãrmel die Augen ab und umarmt mich erneut. Sie riecht nach dem, was sie gekocht
hat, und nach Eau
dâHadrien. Meine Mutter trug dieses Parfüm auch . Früher
hat sie auch gekocht. Unser Haus roch nach Knoblauch und Thymian statt nach
Traurigkeit. Sie fragt mich, wie es mir geht, und ich antworte, gut. Sie hält
mein Gesicht zwischen ihren starken Bildhauerhänden und fragt: »Wie geht es dir
wirklich?«
»Mir
Weitere Kostenlose Bücher