Das Blut der Lilie
das
Herz des Dieners gebrochen. Nur drei Eisenbänder konnten es zusammenhalten, nur
sie konnten â¦Â«
»Das Leben ist kein Märchen. Das solltest du inzwischen
wissen.«
»Moms Herz ist gebrochen.«
»Andi, deine Mutter hat es dir gesagt. Ich habe es dir
gesagt. Der Therapeut hat es dir gesagt. Jeder hat es dir gesagt. Es war nicht
deine Schuld.«
Ich lache. Oder versuche es. Es klingt wie ein Stöhnen.
Dad nimmt seine Brille und reibt sich die Nasenwurzel. So
bleiben wir etwa eine Minute lang stehen und sehen einander an. Und dann kann
ich nicht mehr.
»Ich gehe raus«, sage ich.
»Gut. Mach, was du willst. Ich geb auf«, antwortet er.
»Du hast schon aufgegeben«, korrigiere ich ihn. »Schon vor
langer Zeit.«
Ich nehme meine Gitarre und meine Tasche, haste die Treppe
hinunter, aus dem Haus hinaus und gehe nach Osten. Wohin, weià ich nicht. An
irgendeinen Ort, wo ich mich hinsetzen, spielen und die ganze Welt mitsamt
ihren Bewohnern vergessen kann. Vor allem meinen Vater.
Weil es falsch ist, was er gesagt hat, und wir beide wissen
das.
Es ist meine Schuld. Moms Herz ist meinetwegen gebrochen.
Ich bin diejenige, die ihren Sohn getötet hat.
  15 Â
Ich gehe.
Kilometer um Kilometer. Die Rue Basfrois zur Rue du Faubourg
Saint-Antoine hinunter. Dann nach Westen zur Place de la Bastille. Immer
weiter. Ins Herz von Paris hinein. Gegen zwei erreiche ich die Rue Henri IV . Es ist ein Werktag im Winter, und die StraÃen sind
ruhig. Ich gehe weiter. Nach Süden. Zum Fluss.
Dort kann ich spielen. Niemand wird mir befehlen, damit
aufzuhören. Niemand wird mir sagen, Musik sei nicht genug, wenn Musik doch das
Einzige ist, was ich habe.
Ich gehe zum Wasser, steige eine Steintreppe mit schmalen
Stufen hinab und bin auf dem Quai â einem breiten gepflasterten Weg am
Flussufer. In der Nähe ist eine Bank. Ich stelle meine Gitarre und Tasche
darauf, nehme mein Handy heraus und rufe Dr. Beckers Büro an. Die Mailbox
antwortet. Ich rufe meine Mutter auf ihrem Handy an. Wieder nur die Mailbox.
Dann setze ich mich und ziehe Stiefel und Socken aus. Meine FüÃe bringen mich
um. Ich finde ein paar Pflaster, die ich auf meine Blasen klebe, und ziehe
meine Socken wieder an.
Auf der Rue du Faubourg Saint-Antoine bin ich in paar
Geschäften gewesen: bei einem Künstlerbedarf, einem chinesischen
Lebensmittelhändler und einem Altkleiderladen. Ich nehme die Sachen, die ich
gekauft habe, aus der Tasche und lege sie auf die Bank. Farben und Pinsel. Eine
Teebüchse mit Blumen darauf. Eine mit Steinen besetzte Puderdose, sechs
Glasknöpfe und ein Parfümflakon. Das alles ist für meine Mutter. Ich werde es
ihr schicken.
Zu jedem Gegenstand werde ich eine Geschichte erfinden. Wie
sie es früher getan hat. Ich werde alles aufschreiben und ihr erzählen â dass
die Knöpfe von Edith Piafs Kleidern stammen, der Flakon von Josephine Baker und
die Puderdose von einer Kämpferin der Résistance, die geheime Nachrichten darin
beförderte.
Ich wünschte, ich könnte ihr Gesicht sehen, wenn sie das
Paket aufmacht. Ich wünschte, ich wäre nicht hier auf einer Bank in der Kälte.
Ich wünschte, ich wäre zu Hause bei ihr. Ich wünschte, sie würde malen und ich
spielen. Abends, in unserem Wohnzimmer. In der Dämmerung. In unserem gemeinsamen,
unaussprechlichen Schmerz.
Unter mir höre ich ein leises Platschen. Ich stehe auf, gehe
zum Rand des Quais und sehe eine Wasserratte davonschwimmen. Sie taucht unter
und verschwindet unter der kalten grauen Oberfläche der Seine, und ich denke,
wie leicht es wäre, ihr zu folgen. Ich müsste bloà einen Schritt machen. Nur
einen einzigen Schritt. Das Wasser wäre eiskalt. Ein kurzes Aufbäumen, dann
wäre alles vorbei.
Mein Telefon klingelt. Ich melde mich, ohne auf die Nummer zu
sehen.
»Hallo?«, sage ich und hoffe inständig, dass es meine Mutter
und nicht Dr. Becker ist.
»Wir haben doch jetzt eine Stunde, oder?«
»Nathan? Nathan! Ach, nein. Ach, Mist!«
Ich kann nicht fassen, dass ich das vergessen habe. Mein
Gott, wie dämlich. Zu Hause ist es früher Morgen. Donnerstagmorgen. Ich hatte
für die Ferien donnerstags und freitags Unterricht mit Nathan vereinbart.
»Was ist passiert?«, fragt er und klingt besorgt.
»Ich bin in Paris, Nathan. Für drei Wochen. Ich wollte das
nicht, aber mein Vater ist heimgekommen
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