Das Blut der Lilie
und ⦠hat meine Mom in eine Klinik
gebracht. In eine Klinik für Geistesgestörte. Sie muss dorthin, hat er gesagt,
und ich könnte nicht allein zu Hause bleiben. Und er musste wegen seiner Arbeit
nach Paris, und ich musste ihn begleiten, also bin ich jetzt hier. Ich hätte
Sie anrufen und Bescheid sagen sollen. Aber das hab ich total vergessen. Es tut
mir wirklich leid, und â¦Â«
Plötzlich versagt meine Stimme und ich weine. Ich kann mir
nicht helfen. Ich vermisse meine Mutter. Ich vermisse Nathan. Ich vermisse
Brooklyn. Mir ist kalt, ich habe Angst und ich habâs satt â habâs satt, irre
und verkorkst zu sein, hab die Traurigkeit satt, die mich jeden Tag verfolgt,
wohin ich auch gehe.
»Andi?«, fragt Nathan, aber ich kann ihm nicht antworten.
Tuâs, du Versager, sage ich mir. Tuâs doch, du Feigling. Tuâs
und bringâs hinter dich. Na los. Ein Schritt und du bist im Wasser.
»Andi, hör mir zu. Hör zu.«
Bloà ein kleiner Schritt.
»Hast du gewusst, dass Bach seine kleine Tochter, zwei Söhne
und dann seine Frau Maria Barbara verloren hat?«, fragt Nathan. »Hast du das
gewusst?«
Ich hole schnell und krampfhaft Luft. »Nein.«
»Dann verloren er und Anna Magdalena, seine zweite Frau, vier
weitere Töchter und drei Söhne. Ein anderer Sohn starb mit etwa zwanzig. Elf
geliebte Kinder tot. Elf?«
»Warum erzählen Sie mir das, Nathan? Sind elf mehr als einer?
Also hab ich kein Recht zu trauern?«
»Viele Musikgelehrte haben sich gefragt: Wie konnte Bach
einen solchen Schmerz überleben? Wie konnte er überhaupt noch atmen? Warum ist
sein Herz nicht einfach stehengeblieben? Und vor allem, wie schaffte er es,
weiterhin Musik zu komponieren? Die Kantaten. Die Cello-Suiten. Messen.
Konzerte. Einen Teil der schönsten Musik, die die Welt je gehört hat. WeiÃt du,
wie er das gemacht hat? Ich werde es dir sagen.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Eine Note nach der anderen.«
»Okay, aber Nathan? Da wäre nur eines: Ich bin nicht Bach.
Keiner ist das.«
»Eine Note. Einen Takt. Eine Melodie. Alles zu seiner Zeit.
Wirst du das tun?«
Ich erwidere nichts.
»Du wirst das tun.« Keine Frage diesmal.
»Okay. Ja. Ich werde es tun.«
Wir legen auf. Ich setze mich auf die Bank, lege die Arme um
die Beine und vergrabe das Gesicht zwischen den Knien.
Eine Note, hat er gesagt. Alles, was ich brauche, ist eine
Note.
Ich hebe den Kopf. Meine Gitarre liegt neben mir auf der
Bank. Als ich danach greife, ertönt auf der StraÃe über mir plötzlich das
Quietschen bremsender Reifen, dann lautes Hupen. Ich höre einen Mann schreien â
er muss aus seinem Wagen gestiegen sein â und dann die Fetzen eines Songs,
wahrscheinlich aus seinem Radio â Norwegian Wood. Eine schöne, bittere Melodie. In
den Sechzigern von John Lennon geschrieben, unterstützt von Paul McCartney beim
achttaktigen Mittelteil.
Ich drücke die Gitarre an mich, schlieÃe die Augen, und meine
Finger finden sie â diese eine Note. Die Bach brauchte, wenn ein Kind starb.
Die John Lennon brauchte, wenn er allein aufwachte. Die ich jetzt brauche.
H . Dann eine Tonfolge â Cis, H , A , Gis. Und dann nehmen
die Noten rhythmische Gestalt an, und der Rhythmus wird Musik, und die Musik
löst mich auf, und alles, was ich spüre, ist der Sog von Lennons herrlichem,
hinreiÃendem Spannungsbogen.
Ich spiele das ganze Stück, und als die letzten Noten
verklingen, höre ich ein leises Geräusch. Ich öffne die Augen und sehe einen
glänzenden Euro in meinem Gitarrenkoffer liegen. Ein alter Mann mit Stock geht
gerade weg.
Ich brauche ein paar Sekunden, dann dämmert es mir â er
glaubt, ich sei obdachlos. Weil ich ohne Stiefel, meinen ganzen weltlichen
Besitz um mich herum ausgebreitet, auf einer Bank sitze.
»Hey!«, rufe ich. »Warten Sie!«
Ich nehme die Münze und laufe ihm in Socken, mit der Gitarre
in der Hand, nach. Ich erkläre ihm, dass er sich getäuscht hat. Ich sei nicht
obdachlos, es würde bloà so aussehen. Als ich ihm das Geld zurückgeben will,
sagt er, ich hätte ihn missverstanden. Das Geld sei kein Almosen, sondern der
Lohn für meine wunderbare Musik. Er habe sie sehr genossen.
Er sieht wehmütig aus in seinem grauen Mantel, dem grauen
Haar und grauen Bart, und es muss wohl an der extra Pille liegen, die ich heute
Morgen
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