Das Blut der Lilie
Neuroleptika reagiert, die Dr.
Becker ihr gegeben hat. Er hat sie abgesetzt und ruft jetzt an, um über eine
neue Medikation mit uns zu sprechen.«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
»Nein. Sie ist auf dem Weg der Besserung.«
»Kann ich mit ihm sprechen? Ich möchte mit ihm sprechen.«
Inzwischen bin ich völlig verzweifelt.
Dad nickt. »Matt? Tut mir leid. Hör zu, Andi macht sich
Sorgen um ihre Mutter. Sie möchte mit dir sprechen«, sagt er und reicht mir das
Handy.
»Hallo, Andi. Wie ist Paris?«, fragt mich Dr. Becker.
»Ist meine Mutter okay?«
»Sie hat ein Medikament nicht vertragen. Ihr war schlecht,
und sie musste sich übergeben. Das kommt öfter vor.«
»Malt sie? Sie ist doch nicht zu krank, um zu malen, oder?«
Es folgt ein Schweigen, dann sagt Dr. Becker: »Andi, deine
Mutter muss sich ihrer Trauer stellen. Wenn es irgendeinen Weg gibt, dass sie
wieder gesund wird, dann den, dass sie sich ihrem Verlust bewusst stellen muss
und ihre Gefühle nicht mit ihrer Kunst bemänteln darf.«
»Okay, ja, aber sie braucht das Malen«, antworte ich, weil
ich keine Lust auf das Psycho-Gesülze habe.
Wieder eine Pause. »Nein, sie malt nicht.«
»Aber ich hab ihre Malsachen für sie eingepackt. Und eine
tragbare Staffelei und ein paar Leinwände. Ich hab alles in ihrem Zimmer
gelassen. Ich hab ihr gezeigt, wo ich es hingestellt habe.«
»Das weià ich. Ich habe alles rausgenommen.«
»Sie haben was?«, stoÃe ich hervor. Und bin in fünf Sekunden
von Null auf Hundert. »Sie Mistkerl! Ich kann nicht glauben, dass Sie das getan
haben!«
»Gib mir das Telefon«, sagt Dad. Er tritt auf mich zu und
greift danach, aber ich drehe mich um, damit er es mir nicht wegnehmen kann.
»Andi, ich verstehe, dass du aufgeregt bist, aber ich
versichere dir, deine Mutter wird Fortschritte machen mit dieser
Medikamenten-Therapie. Sichtbare, messbare Fortschritte«, sagt Dr. Becker.
»Sie meinen, sie wird ein Zombie. Wenn die Drogen wirken. Wie
ich. Und wenn nicht, wird sie total irre. Wie ich.«
»Wie ich sagte â wir werden in der Lage sein, ihre
Fortschritte zu dokumentieren â¦Â«
»Fortschritte? Wie kann ein Maler, der nicht malt, ein
Fortschritt sein? Was macht sie? Topflappen häkeln? Sie braucht ihre Farben und
ihre Pinsel. Kapieren Sie das nicht?«
»Andi â¦Â«
»Wie gut, dass es vor ein paar Hundert Jahren Sie und Ihre
Pillen noch nicht gegeben hat, sonst wäre es nie zu einem Vermeer oder
Caravaggio gekommen. Bilder wie Das Mädchen mit einem Perlohrring oder Die Abnahme vom Kreuz hätten
Sie den Künstlern mit Ihren Drogen ausgetrieben.«
»Andi!«, ruft Dad. Er hat das Handy inzwischen erwischt und
versucht, es mir wegzureiÃen.
Ich nenne Dr. Becker einen Trottel und sage ihm, dass ich mit
meiner Mutter reden will. Er erklärt mir, das sei nicht möglich. Nicht in
meinem jetzigen Zustand. Ich würde sie bloà aufregen. Daraufhin nenne ich ihn
noch was Schlimmeres.
»Das reicht«, sagt Dad, reiÃt mir das Handy aus der Hand und
hält es sich ans Ohr. »Tut mir leid, Matt. Ich rufe in ein paar Minuten
zurück.«
Er legt auf und fängt an, mich anzubrüllen. »Das war absolut
unverschämt. Du bist wohl völlig durchgedreht. Du beruhigst dich jetzt und dann
rufst du Dr. Becker zurück und entschuldigst dich.«
Ich bin so aufgebracht, dass ich ohne Unterlass um den Tisch
herum laufe. »Warum hast du das getan?«, brülle ich zurück. »Warum hast du sie
in diese Klinik eingeliefert?«
»Um ihr zu helfen, wieder gesund zu werden. Sie ist krank,
Andi.«
»Sie war auf dem Weg der Besserung. Sie hat aufgehört,
ständig zu weinen. Mit Sachen zu schmeiÃen. Sie muss daheim sein. In ihrem
Haus. Bei ihrer Arbeit.«
Dad schweigt eine Weile, dann sagt er: »Du musst damit
aufhören. Du musst loslassen. Du denkst, du könntest es wiedergutmachen. Sie
heilen. Du glaubst, du könntest es aus der Welt schaffen, und wenn dir das
gelingt, dann â¦Â«
»Erinnerst du dich an den Froschkönig?«, unterbreche ich ihn.
»Den was? Nein. Nein, tue ich nicht.«
»Das war Trumans Lieblingsmärchen, als er klein war. Es geht
so: Es war einmal ein junger Prinz. Er hatte einen Diener. Eines Tages wurde
der Prinz entführt und in einen Frosch verwandelt. Als dies geschah, ist
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