Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
anders?
    Â»Was machen die anderen Schüler? Welche Form hat Vijay
gewählt?«
    Â»Er schreibt einen Aufsatz.«
    Â»Hör zu. Ich finde wirklich, dass …«
    Â»Vergiss es«, sage ich kurz angebunden. Und lasse die
Rollläden wieder runter.
    Â»Vergiss es? Vergiss was? Deine Abschlussarbeit?«, fragt er
mit erhobener Stimme. »Die werde ich nicht vergessen, Andi. Und du auch nicht.
Ist dir eigentlich klar, wie wichtig die ist? Wenn du deine Arbeit nicht
fertigstellst, kannst du keinen Abschluss machen. Wenn du sie aber abgibst und
sie einigermaßen passabel ist, könnte es sein – ich betone, könnte es
sein –, dass du damit die Fächer ausgleichst, in denen du dieses Semester
durchgefallen bist.«
    Er redet weiter, aber ich höre nicht mehr zu. Ich wünschte,
er könnte Musik hören. Mich hören. Ich wünschte, er würde bloß eine oder zwei
Minuten die Augen schließen und Malherbeaus herrliches Konzert in a-Moll hören,
das Feuerwerkskonzert ,
und fühlen, was ich fühle. Fühlen, wie der Klang in seinem Körper weiterlebt.
Fühlen, wie sein Herz schlägt, in Vierteln und Achteln.
    Ich wünschte, er würde die düstere, metallisch klingende
Passage in Idioteque von Radiohead hören und den Tristan-Akkord erkennen, den Wagner an den Anfang
von Tristan und Isolde gestellt hat. Dann würde er vielleicht auch wissen, dass
Paul Lansky diesen Akkord in einem Stück namens Mild und Leise verwendet hat,
das er für Computer komponierte, und wenn nicht, würde er vielleicht den aus
vier Noten bestehenden Unheils-Akkord erkennen. Er würde wissen, dass dieser
Akkord zwar nach Wagner benannt, aber nicht von ihm erfunden wurde. Wagner
hörte ihn in Malherbeaus Feuerwerkskonzert ,
übernahm ihn, erweiterte ihn und transponierte ihn von A nach D . Dann gab er ihn an Debussy weiter, der ihn
in seine Oper Pelléas
et Mélisande einfließen ließ. Und Debussy gab ihn an Berg weiter,
der ihn in seine Lyrische
Suite einbrachte. Und Lansky übernahm ihn von Berg. Und Radiohead
von Lansky. Und sie überreichten ihn mir.
    Und ich wünschte, er würde verstehen, dass Musik lebt. Für
immer. Dass sie stärker ist als der Tod. Stärker als die Zeit. Dass ihre Kraft
dich zusammenhält, wenn nichts mehr sonst dies vermag.
    Â»â€¦ Andi? Hörst du mir zu? Wenn du nächstes Semester das Ruder
herumreißen kannst, wenn du eine Eins für deine Abschlussarbeit kriegst und mit
einem guten Zweierschnitt von St. Anselm abgehst, kannst du einen guten
Vorbereitungskurs besuchen. Dort machst du ein Jahr, verbesserst deine Noten,
und dann kannst du dich vielleicht in Stanford vorstellen. Der Professor, der
für die Zulassungen zuständig ist, ist ein guter Freund von mir.«
    Â»Ich wusste gar nicht, dass Stanford eine Musikfakultät hat«,
erwidere ich.
    Er sieht mich lange und eindringlich an, und sagt dann: »In
St. Anselm wurdest du getestet …«
    Â»Ja. Das ist mir bekannt.«
    Â»â€¦ im Kindergarten. Und in der fünften Klasse. Und in der
neunten. Jedes Mal hast du über einhundertfünfzig Punkte erreicht.
Genie-Niveau. Wie Einstein.«
    Â»Oder Mozart.«
    Â»Du kannst mit deinem Leben alles anfangen. Was immer du
willst.«
    Â»Bloß nicht das, was ich will.«
    Â»Andi, Musik ist einfach nicht genug …«
    Â»Musik ist genug. Mehr als genug«, antworte ich, inzwischen
ebenfalls mit erhobener Stimme.
    Ich versuche, meine Wut im Zaum zu halten. Nicht wieder
Streit anzufangen. Aber es ist schwer. Wirklich schwer.
    Â»Wie willst du von Musik deine Rechnungen bezahlen, Andi? Was
kannst du mit Gitarrespielen überhaupt verdienen? Schließlich können nicht alle
ein Jonny Radiohead werden.«
    Â»So viel steht fest.«
    Er will noch weiterreden, kann seinen Satz aber nicht
beenden, weil sein Handy klingelt.
    Â»Wer? Dr. Beckers Büro? Ja. Ja, bin ich. Verbinden Sie mich
bitte. Matt? Nein, ich … was ist los? Was ist passiert mit ihr?«
    Â Â 14  
    Mir bleibt fast das Herz stehen.
    Â»Was ist?«, frage ich.
    Er hebt einen Finger. »Hat sie, wirklich? Nein, nein …
    natürlich nicht … Ja, ich bin einverstanden, Matt.«
    Â»Was ist passiert? Kann ich mit ihr sprechen?«, frage ich
außer mir.
    Â»Matt, einen Moment bitte«, sagt Dad. Er legt die Hand über
das Handy. »Deine Mutter hat schlecht auf die

Weitere Kostenlose Bücher