Das Blut der Lilie
genommen habe, denn ein paar Sekunden lang sehe ich ihn, nicht so wie er
ist, sondern wie er einst war. Als er den Song zum ersten Mal hörte. Als junger
Mann in Paris. Hatte er damals ein Mädchen? In seinen alten, traurigen Augen
kann ich sehen, dass er eine Liebe verloren hat.
Er tippt an seine Hutkrempe. »Danke Ihnen, Mademoiselle. Auf
Wiedersehen«, sagt er und geht weiter.
Ich starre ihm nach und dann auf die Münze in meiner Hand. Ich
stecke sie in die Tasche, setzte mich wieder auf die Bank und spiele.
Eine Note nach der anderen.
  16 Â
Es ist Mittwochmorgen.
Ein Tag ist geschafft, zwanzig liegen noch vor mir.
Gestern Abend bin ich lange weggewesen, um meinem Vater aus
dem Weg zu gehen. Er musste zu einem Dinner, und ich bin erst zurückgekommen,
als ich sicher sein konnte, dass er fort war. Ich blieb am Fluss und spielte
stundenlang Gitarre. Dann habe ich mich auf die Jagd nach mehr Trödelschätzen
für meine Mutter gemacht. Später am Abend bin ich in ein FedEx-Büro gegangen
und habe meine Beute an Vijay geschickt. Dr. Becker fängt alles ab, was ich
direkt an sie schicke, also hoffe ich, Vijay kann die Sachen bei einem Besuch
hineinschmuggeln. Ich habe ihn angerufen, und er hat versprochen, es zu
versuchen.
Ich sitze an einem Ende des Esstischs. Die Vinaccia habe ich
aus dem Koffer genommen, auf den Tisch gelegt, und jetzt fummle ich an dem
kaputten Kofferschloss herum, bis mein Vater sein Telefongespräch beendet hat.
Ich möchte mit ihm reden. Ich habe einen Vorschlag zu machen. Weil ich nicht
noch so einen Tag wie gestern ertrage, ganz zu schweigen von drei Wochen.
Dad sitzt am anderen Ende des Esstischs und redet mit G. über
Lautsprecher. G. liefert irgendwelche detaillierten Informationen über die
Bourbonen, die Familie von Ludwig XVI ., und über
die Habsburger, Marie Antoinettes Familie. Ich hantiere weiter an dem Schloss
herum und versuche, die Zacken aus dem unteren Teil des Schlosses nach oben zu
kriegen, damit der Koffer richtig schlieÃt. Denn wenn ihn jemand am Henkel
hochheben würde, während der Gurt darum nicht geschlossen ist, würde die
Gitarre herausfallen und zerbrechen. Allein der Gedanke ist unerträglich für
mich. Ich habe versucht, eine Heftklammer ins Schloss zu schieben, und es zu
lockern. Es hat nicht funktioniert. Auch nicht mit einer Schreibfeder, einem
Korkenzieher und einem Obstmesser. Jetzt versuche ich es mit einer
Plastikgabel.
Ich höre, wie Dad sich verabschiedet. Ich drehe die Gabel
herum â und sie zerbricht. Ein Stück Plastik fliegt über den Tisch und landet
auf dem Laptop meines Vaters. Er sieht mich an. Ich sehe ihn an. Wir streiten
uns im Moment nicht, und wenn wir uns nicht streiten, haben wir uns nicht viel
zu sagen.
»Also ⦠Paris, Belgien und Deutschland, ja? G. macht drei
Testserien?«, frage ich.
»Ja. Es ist kompliziert«, antwortet Dad.
»Ich kann mit komplizierten Dingen umgehen. Ich bin ein
Genie, erinnerst du dich?«
Er geht nicht darauf ein. »G. will sichergehen, dass die
Testresultate nicht angefochten werden können. Weder von wissenschaftlicher
Seite noch von Leuten mit irgendwelchen anderen Interessen und Absichten.«
»Absichten?«, frage ich. »Warum sollte jemand â¦Â«
Die Türklingel summt und unterbricht mich.
»Das ist mein Taxi«, sagt Dad und schlüpft in seinen Mantel.
»Hey, Dad, warte einen Moment â¦Â«
»Was gibtâs, Andi? Ich muss los«, antwortet er.
»Wenn ich einen Arbeitsentwurf mache, kann ich dann nach
Hause?«
»Du kannst nach Hause. Unser Rückflug ist für den
dreiundzwanzigsten gebucht.«
»Ich meine früher. Wenn ich bis zum Wochenende fertig bin,
kann ich dann am Sonntag heimfliegen?«
»Ich weià nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Warum nicht? Du hast gesagt, ich sollte einen Entwurf anfertigen,
also mache ich das. Und wenn ich zu Hause bin, mache ich keinen Unsinn. Das
schwöre ich. Ich rufe dich jeden Tag an. Du kannst Rupert Goode bitten, mich im
Auge zu behalten. Na ja, vielleicht nicht Rupert. Wie wärâs mit Mrs. Gupta?«
»Du hast wohl an alles gedacht, was?«, fragt er und nimmt
seine Aktenmappe.
»Ja, das habe ich.«
Er sieht mich lange und eindringlich an. Ich sehe ihn lange
und eindringlich an und bin überrascht, dass mehr Grau in seinen Haaren und
mehr Falten um seine Augen sind, als ich in
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