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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ihn auf seine Tastatur einhämmern – »… okay, ich hab’s: 20. April 1795.«
    Â»Wie hast du das so schnell rausgekriegt?«
    Â»Ich hab im Internet eine Umrechnungstabelle gefunden. Also,
was steht drin?«
    Â»Ich bin noch nicht sicher. Ich hab gerade erst angefangen zu
lesen, aber …«
    Â»Vijay!« ,
höre ich im Hintergrund. »Wie
kannst du mit leerem Magen lernen? Warum hast du das Frühstück nicht gegessen,
das ich dir gemacht habe?«
    Â»Weil ich telefoniere, Mom!«
    Â» Alberst
du wieder mit deinen Freunden herum? Wer ist dran? «
    Â»Ahmadinedschad.«
    Â»Oh
mein Gott. Was sagt er?«
    Â»Dass er heute Abend zu einem Konzert von Jeezy im Beacon möchte.
Putin geht auch hin. Er hat auf dem Schwarzmarkt eine Karte von Kim Jong Il
ergattert. All die schweren Jungs gehen hin.«
    Â»Sei
nicht so frech, junger Mann!«
    Â»Ich muss los«, sagt er zu mir. »Feindliche Truppen haben
eine Mombe geworfen.«
    Â»Zurück in Position, Soldat. Ende.«
    Â»April 1795«, sage ich laut vor mich hin.
    Ich streiche über den Ledereinband des Tagebuchs, denke über
das Mädchen nach, das es geschrieben hat, und über die Hoffnungen, die sie sie
sich machte, das Buch aus Paris rauszuschmuggeln. Aber das ist nicht geglückt,
weil es zweihundert Jahre später immer noch hier ist.
    Das Mädchen – Alexandrine – schrieb, dass es nicht mehr lange
leben würde. Ist ihr etwas zugestoßen, nachdem sie diese Seiten geschrieben
hat? Hat G. nicht gesagt, die Gitarre wurde in den Katakomben gefunden?
Vielleicht war das Mädchen auf der Flucht, hat die Gitarre in den Katakomben
versteckt und konnte später nicht mehr zurück, um sie zu holen. Und der Koffer
blieb unentdeckt bis zu dem Einsturz, als das Schloss beschädigt wurde. Und der
Typ, der den Koffer fand, kam nie auf die Idee, den doppelten Boden zu öffnen,
denn wer erwartet schon einen doppelten Boden in einem Gitarrenkoffer? Und
außerdem hatte er den Schlüssel nicht.
    Aber ich. Unerklärlicherweise habe ich ihn. Wie kam der
Schlüssel aus dem Paris des achtzehnten Jahrhunderts in einen Brooklyner
Trödlerladen des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Ist Alexandrine nach New York
geflohen? Mit dem Schlüssel in ihrer Manteltasche? Der schließlich irgendwie in
einer Kiste mit altem Trödel auf einen Flohmarkt gelangte? Aber möglicherweise
ist Trumans Schlüssel gar nicht ihr Schlüssel. Vielleicht ist er bloß irgendein
alter Allerweltsschlüssel, der zufällig diesen Instrumentenkoffer aufschließt.
Das erscheint viel wahrscheinlicher.
    Wie auch immer. Das Geheimfach ist meiner Ansicht nach seit
Langem nicht mehr geöffnet worden. Sonst wären das Tagebuch und die Miniatur
wahrscheinlich nicht mehr drin gewesen. Ich glaube nicht, dass es geöffnet
wurde, seit Alexandrine es verschlossen hatte und geflohen war. Oder gestorben.
    Bis auf den heutigen Tag nicht.
    Bis ich es tat.
    Ich stecke den Zeitungsausschnitt zurück in das Tagebuch und
lese weiter.
    Â Â 20  

    22. April 1795
    Ein Glücksfall hat mich mit ihm zusammengeführt.
Zumindest dachte ich das damals.
    Es war an einem Sonntag im April. Vor Jahren. 1789. Robespierre hat die Sonntage
inzwischen abgeschafft. Auch das Jahr 1789 gibt es nicht mehr. Aber ich richte mich nach dem alten Kalender, nicht nach
dem neuen.
    Es war vorher. Bevor die Menschen in Paris ein
Gefängnis und einen Palast stürmten, einen König stürzten.
    Meine Familie war zu Hause versammelt, in jener
feuchten, elenden Kammer, die wir uns teilten. Meine Großmutter rührte gerade
in einer Suppe. Kaninchen, sagte sie, aber keiner glaubte ihr. Zu viele Katzen
waren verschwunden.
    Wir – mein Vater, mein Onkel und ich – waren heimgekommen,
ohne unsere Koffer und Kisten.
    Wo sind die Marionetten?, fragte meine Mutter.
    Wir haben eine Vorstellung gegeben, erklärte mein
Vater, über die Revolution in Amerika. Die Wachen gingen auf uns los. Sie
fanden die Vorstellung aufwieglerisch. Sie zertrampelten die Marionetten,
rissen die Kulissen ein und zündeten alles an.
    Mein Gott, wir sind ruiniert!, rief meine Mutter. Was
sollen die Kinder essen? Was sollen wir tun? Sag mir, was?
    Wir werden neue Marionetten machen, erwiderte mein Onkel.
    Damit die Wachen sie wieder zertrampeln können?, fragte
meine Mutter.
    Wir machen furzende Marionetten, entgegnete mein

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