Das Blut der Lilie
ich wieder in den
Koffer und das Tagebuch auch. Dann sperre ich ihn so fest zu, wie nur möglich.
Ich sage mir, dass dieses Tagebuch ein schlechter Horrortrip
ist. Und dass ich auf die schlechten Trips anderer Leute verzichten kann. Ich
bin schon auf meinem eigenen.
Aber in Wirklichkeit habe ich Angst davor und weià nicht,
warum. Es zu lesen fühlt sich an, wie Bonbons von Fremden anzumehmen. Wie per
Anhalter oder spätnachts mit der U -Bahn zu fahren.
Ich werfe mich aufs Sofa, mache den Fernseher an und schaue CNN . Zwei Minuten später schalte ich wieder ab, rufe
Vijay an und lande auf seiner Mailbox. Ich nehme das Buch über André
Malherbeau, das ich gerade lese, und schlage es auf:
⦠die erhaltenen Noten zeigen uns, dass seine Stücke fürs
Theater unterhaltsam, aber nicht herausragend sind. Sie lassen nichts von der
Brillanz und Vielschichtigkeit seines späteren Werks erahnen â¦
Ich klappe das Buch wieder zu. Ich kann mich nicht
konzentrieren. Nicht stillsitzen. Ich stehe auf und suche in der Küche nach
etwas Essbarem, finde aber nichts, und gehe wie Blaubarts dämliche Frau mit dem
Schlüssel in der Hand wieder zu dem Koffer zurück. Ich nehme das Tagebuch
heraus und blättere zu der Stelle nach dem ersten Eintrag. Dabei flattert etwas
heraus und landet auf dem Tisch. Es ist ein Zeitungsausschnitt, klein und
brüchig:
Grüner Mann schlägt wieder zu
Paris, 2. Floréal III
â Der Grüne Mann, ein Spitzname für den Verbrecher, der
die Bürger von Paris mit zerstörerischen Feuerwerksdarbietungen terrorisiert,
hat letzte Nacht wieder zugeschlagen, wodurch in der Rue de Normandie mehrere
Häuser Schaden nahmen.
Niemand kennt den Zweck dieser pyrotechnischen Aufführungen.
Manche glauben, der Grüne Mann â so genannt wegen der frischen Blätter, die
Feuerwerker einst trugen, um sich vor Funkenschlag zu schützen â feuere Raketen
ab, um ausländischen Armeen Signale zu geben. Andere meinen, die Feuerwerke
seien eine Form verschlüsselter Kommunikation zwischen aufständischen Kräften
innerhalb der Stadt.
General Bonaparte, der Kommandeur der Pariser Garde, wurde
heute Morgen von der Nationalversammlung streng befragt, warum der Grüne Mann
noch immer auf freiem Fuà sei. Bonaparte versicherte den Mitgliedern, dass er
alles in seiner Macht stehende tue, um den Schurken zu fangen.
»Ich habe die Anzahl der Wachen auf den StraÃen erhöht und
eine Belohnung von hundert Francs auf den Kopf des Grünen Mannes ausgesetzt«,
sagte er. »Man wird ihn fangen â das ist nur eine Frage der Zeit. Und sobald
das geschehen ist, werden wir umgehend und hart Gerechtigkeit üben.«
»Zweiter Floréal«, sage ich laut. Ich erinnere mich an das
Wort Floréal aus den Geschichtsstunden zur Französischen Revolution. Die
Nationalversammlung schaffte den alten Julianischen Kalender ab und machte den
22. September 1792 â den Tag, an dem Frankreich Republik wurde â zum Tag eins
im Jahr eins. Mitglieder der Nationalversammlung behaupteten, mit ihnen würde
eine neue Zeit beginnen. Die römische Drei steht für das Jahr drei
beziehungsweise 1795, glaube ich.
Aber wer ist der Grüne Mann?
Ich blättere zum ersten Eintrag zurück, in dem die
Schreiberin einen grünen Mann erwähnt. Sie sagt, es sei die letzte Rolle, die
sie spiele. Aber sie ist kein Mann. Ihr Name ist Alexandrine, ein Mädchenname.
Hat sie vorgegeben, ein Mann zu sein? Und wenn ja, wozu dienten die Feuerwerke?
AuÃer dazu, General Bonaparte zu verärgern, was nicht sonderlich schlau war.
Der Typ hatte ein aufbrausendes Temperament. Und eine Armee.
»Wer bist du?«, frage ich laut. Ins Leere.
Mein Handy klingelt. Vor Schreck bleibt mir fast das Herz
stehen.
»Mein Gott, Vijay! Du hast mich zu Tode erschreckt. Was
willst du?«
»Was ich will ? Du hast eine Nachricht hinterlassen.«
»Ja, stimmt. Tut mir leid. Du wirst es nicht glauben. Ich hab
ein Tagebuch gefunden. Es war in einem alten Gitarrenkoffer versteckt. Ich
glaube, es könnte richtig alt sein. Aus der Zeit der Revolution vielleicht.«
»Wow.«
»Ja, wirklich, Wahnsinn. Es liegt ein alter Zeitungsausschnitt
darin. Der hat ein seltsames Datum â 2. Floréal III .
Hast du eine Idee, was das heiÃen soll?«
»Vielleicht Mai?«, sagt er. »Bleib einen Moment dran â¦Â« â ich
höre
Weitere Kostenlose Bücher