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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Onkel,
und damit werden wir reich. Er wandte sich an meinen Vater und sagte: Paris
will Fürze und Farcen, keine hochtrabenden Ideale, Theo. Das musst du liefern.
    Ich muss dieses, ich muss jenes. Ich bin doch nicht
deine Marionette, René, murrte mein Vater.
    Früher war mein Vater Theaterschreiber gewesen, und wir
Übrigen Schauspieler. Seine Stücke waren tragisch und traurig, wie er selbst,
aber die Theater lehnten sie ab, denn sie kündeten von Freiheit und dem Ende
der Könige. Da er seine Stücke nicht in Theatern aufführen konnte, führte er
sie auf der Straße auf und wurde drei Mal von den Zensoren eingesperrt. Beim
dritten Mal verboten sie ihm, überhaupt je wieder aufzutreten. Also fing er an,
Marionetten zu bauen und ließ sie die Worte sagen, die er nicht sagen durfte.
    Papa wird für uns sorgen, nicht wahr?, sagte meine
Schwester Bette zu unserer Mutter. Ich hab solchen Hunger!
    Wir alle waren hungrig und mager, denn die Ernte war
schlecht gewesen und der Winter lang. Jeden Morgen sahen wir Leichen auf der
Straße, blau und steifgefroren. Männer, Frauen, kleine Kinder. An Hunger und
Kälte gestorben. Sie wurden ins Leichenhaus getragen wie Bretter.
    Nur Bette war nicht dürr. Wie sie trotz der Hungersnot
so füllig blieb, war uns ein Rätsel. Meine Mutter vermutete Würmer. Meine
Großmutter eine kranke Galle.
    Mein Vater und mein Onkel stritten weiter über die Marionetten.
Meine Mutter weinte. Meine Brüder, alle fünf, taten es ihr gleich. Meine
Großmutter schimpfte.
    Und ich? Ich beschloss, mein Glück damit zu versuchen,
im Palais Royal Shakespeare zu rezitieren. Ich würde Julia, Rosalind und Kate
vortragen, dann in Hosen schlüpfen und Hamlet, Romeo und den jungen König
Heinrich geben.
    Das Palais Royal ist jetzt ein trauriger Ort – in den leeren
Räumen sammelt sich Staub, und Vagabunden schlafen unter den Bäumen davor –,
aber einst war es das Herz von Paris, ein greller Ort des Vergnügens mit Läden,
dunklen Höhlen, in denen Karten gespielt wurde, Restaurants und Bordellen unter
den Arkaden. Es war ein Ort, wo man ein Glas Limonade kaufen konnte, oder das
Mädchen, das es feilbot. Ein Ort, wo man eine Amazone bestaunen konnte, mit
nichts als einem Tigerfell bekleidet. Ein Ort, wo in Pelze und Parfüm gehüllte
Herzoginnen flanieren gingen und Bettler für einen Sou ihre schwärenden Wunden
zeigten. Ein Ort, wo Akrobatinnen, die scheinbar nur aus Busen und nackten
Beine bestanden, durch die Luft wirbelten, geschminkte Knaben herumspazierten
und Quacksalber in Einmachgläsern tote Missgeburten mit zwei Köpfen und vier
Armen zur Schau stellten.
    Wie sehr ich diesen Ort doch liebte.
    Das Palais gehörte dem Herzog von Orléans. Ich hatte
ihn nie gesehen, denn seine Gemächer befanden sich hoch über den mit Lärm
erfüllten Höfen, aber er war als der reichste und bösartigste Mann in ganz
Frankreich bekannt.
    Ich hoffte, dort ein paar Münzen zu ergattern. Anderswo
würde mir das nicht gelingen. Am Tag zuvor hatte ich in der Comédie und der
Oper vorgesprochen. Ich hatte es in fünf Boulevardtheatern versucht, aber keine
Rolle ergattert. Nicht einmal eine Dienstmädchenrolle. Ich beherrschte mehr als
das Dienstmädchenrepertoire, schon damals. Ich konnte Hauptrollen spielen. Aber
ich bin ein reizloses Mädchen, also half mir das alles nichts.
    Ich zog gerade meinen Mantel an, als meine Schwester zu
einem zerbrochenen Spiegel an der Wand trat, um sich zu bewundern. Sie dachte,
niemand beobachte sie, aber ich sah, dass sie etwas aus ihrer Tasche fischte
und es sich in den Mund stopfte.
    Es war Kuchen. Das fette Schwein aß Kuchen, während der
Rest von uns mit Katzensuppe vorlieb nehmen musste. Ich sah, wie sie heimlich
einen weiteren Bissen verschlang. Mein Bruder Émile sah es auch. Er wollte nach
einem Stück greifen, aber sie schlug seine Hand weg. Er schrie laut auf, und
meine gequälte Mutter, die nicht mitbekommen hatte, was vorgefallen war, schlug
ihn noch einmal.
    Ich sah Émile, der weinte, weil er nicht genug zu essen
bekam. Und meine Mutter, die weinte, weil sie ihm nichts geben konnte. Dann
ging ich zu Bette hinüber und riss ihre Tasche auf. Ein großes Stück
Butterkuchen fiel auf den Boden.
    Schaut her! Sie hat Kuchen und teilt ihn nicht!, rief
ich.
    Du verdammte Tratsche!, zischte Bette. Es wird dir noch
leid tun, dass du dein Maul

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