Das Blut der Lilie
aufgerissen hast, das schwöre ich dir!
Mein Vater und mein Onkel stritten sich immer noch und
hörten uns nicht, aber die anderen taten es. Meine GroÃmutter blickte von ihrer
Suppe auf, meine Tante von ihrer Näharbeit.
Meine Mutter wurde bleich. Sie hob den Kuchen auf.
Woher hast du das, Mädchen?, fragte sie.
Von Claude, antwortete Bette und wurde rot.
Claude war ein Küchenjunge im Haus eines Aristokraten,
schlaksig und dürr wie in Laternenpfahl, und Bette machte ihm schöne Augen.
Claudes Kuchen hat Bette fett gemacht!, sagte ich
spöttisch.
Sei still, du Dummkopf. Das kommt nicht von Claudes Kuchen,
sagte meine GroÃmutter.
Er wird dich heiraten!, schrie meine Mutter. Und wenn
ich ihn an den Ohren zum Altar zerren muss!
Er kann nicht!, schrie Bette.
Warum nicht? Hat er eine andere? Antworte mir, du kleines
Flittchen!
Nein, Mama! Er muss noch ein Jahr seinen Dienst
ableisten. Sobald er frei ist, schwört er, mich zu heiraten. Noch am selben
Tag!
Was für eine Schande, Bette, sagte meine Mutter. Du mit
einem dicken Bauch und ohne Ehemann. Wir können uns nirgendwo mehr sehen
lassen. Und wie soll ich noch ein Maul mehr stopfen?
Bette rannte schluchzend zu meiner GroÃmutter und legte
den Kopf in ihren SchoÃ. Nachdem sie und meine Mutter ihren Zank beigelegt
hatten, hörten wir jetzt meinen Vater, der er immer noch mit meinem Onkel
stritt.
Selbst wenn ich diese furzenden Marionetten mache, was
dann René?, schrie er. Was nützt uns das? Niemand kommt in unsere Vorstellung.
Und selbst wenn â selbst wenn wir tausend Livres am Tag verdienten, gibt es
kein Brot dafür zu kaufen. Wir hungern hier in Paris, während die in Versailles
Kuchen fressen!
Bette hob den Kopf. Sie wischte sich die Nase am Ãrmel
ab. Kuchen? Es gibt Kuchen in Versailles?, fragte sie. Warum gehen wir nicht
dorthin? Und bedienen uns davon!
Bette täuschte sich, was Claude anbelangte. Er hat sie
nie geheiratet. Sie täuschte sich auch hinsichtlich Versailles. Sie bekam nicht
so viel vom Kuchen ab, wie sie gehofft hatte.
Aber sie hatte recht, was mich anging. Es tut mir leid,
sehr leid, dass ich damals mein Maul aufgerissen habe.
Warum tut es ihr leid, frage ich mich. Während ich mich das
frage, kommt wieder dieses Gefühl in mir auf â das Gefühl, das ich schon am
Anfang beim Lesen hatte â, ein Gefühl der Angst. Und ich will nichts mehr wissen.
Ich will nicht wissen, was ihr leid tut. Oder warum sie
dachte, sie würde nicht mehr lange leben. Oder wie die Gitarre in die
Katakomben kam, in jenen groÃen, weitläufigen Friedhof unterhalb der StraÃen
von Paris. Denn was auch immer die Gründe dafür waren â es kann nichts
Angenehmes gewesen sein, und ich halte mich gerade ganz gut. Ich streite nicht
mit meinem Vater. Ich mache meine Arbeit. Die Tabletten halten die Traurigkeit
im Zaum. Und so soll es bleiben.
Mein Magen knurrt wieder heftig, und ich merke, dass ich halb
verhungert bin. Das Letzte, was ich gegessen habe, war eine Schinken-Käse-Crêpe
auf dem Heimweg vergangene Nacht. Ich klappe das Tagebuch zu und stecke es
wieder in den Koffer. Diesmal für immer. Ich werde G. davon erzählen, wenn er
zurück ist. Und von der Miniatur. Er kann sich damit abgeben.
Ich ziehe meine Jacke an und nehme meine Tasche. Ich will mir
schnell etwas zu essen besorgen, dann will ich wieder zurückkommen und über
Malherbeau weiterlesen. Ich habe noch eine Menge zu tun bis Sonntag.
Keine traurigen Geschichten mehr für mich.
Nicht heute.
Ich muss ein Flugzeug erreichen.
  21 Â
Nach einem FuÃmarsch von zehn Minuten bin ich bei einem
Lebensmittelgeschäft in der Rue Faubourg de Saint-Antoine angelangt. Gerade,
als ich reingehen will, fällt mir ein, dass ich gestern zwar mehrmals Geld
abgehoben, aber alles ausgegeben habe. Also gehe ich ein paar StraÃen zurück,
zu einem Geldautomaten. Ich stehe davor und warte auf mein Geld, als plötzlich
die Meldung aufleuchtet, dass ich keinen Zugriff auf mein Konto habe.
Vielleicht habe ich mich bei meiner Geheimzahl vertan, denke ich, und probiere
es noch einmal, aber ohne Erfolg.
Ich ziehe meine Karte heraus und rufe meinen Vater an. Er
nimmt nicht ab. Natürlich nicht. Er ist nicht hungrig. Vermutlich trinkt er
gerade mit dem Präsidenten Tee. Ich wähle eine andere Nummer. Es rauscht in der
transatlantischen Leitung, dann sagt eine Stimme: »Dr. Minna
Weitere Kostenlose Bücher