Das Blut der Lilie
gesehen. Es ist auf ein kleines Oval aus
Elfenbein gemalt und mit Gold eingerahmt. Die Augen des Jungen sind blau, sein
Haar ist blond und lockig, wie Trumans, aber seine Züge sind anders, zarter. Er
trägt einen altmodischen Spitzenkragen und eine graue Jacke.
Daneben, in das Samtfutter gedrückt, liegt ein kleines
Musselinsäckchen, das mit einer blauen Schleife zugebunden ist. Ich nehme es
heraus und halte es an meine Nase â Nelken. Auch ein Buch liegt da â klein und
in Leder gebunden, ohne Titel. Die starren, an den Rändern vergilbten Seiten
sind voll beschrieben. Auf der ersten steht ein Datum â 20. April 1795. Das ist
über zweihundert Jahre her. Was ziemlich irre ist. Kann das Buch wirklich so
alt sein? Ich fange an zu lesen, komme aber nur langsam voran. Das Französisch
ist altmodisch und die Schrift hastig und krakelig.
20. April 1795
Geschichte ist Fiktion.
Robespierre hat das gesagt, und er sollte es wissen.
SchlieÃlich hat er sie die letzten drei Jahre selbst geschrieben.
Jetzt bin ich an der Reihe.
Die Seiten, die Sie jetzt in Händen halten, sind keine
Fiktion. Sie sind die wahrhafte Schilderung dieser bitteren und blutigen Tage.
Ich schreibe sie in groÃer Eile und voller Hoffnung â in der Hoffnung dass
durch Ihre Lektüre die Welt die Wahrheit erfährt. Denn die Wahrheit macht frei.
Das hat nicht Robespierre gesagt. Sondern Jesus. Und
damit Sie mich nicht für närrisch halten: Mir ist sehr wohl bewusst, was mit
ihm geschah.
Wenn Sie diesen Bericht gefunden haben, bin ich
verloren. Und diese letzte Rolle, die ich spielte, die des Grünen Mannes, wird
beendet sein.
Aber noch lebt er. In Furcht und Elend zwar â aber er
lebt. Komplotte wurden geschmiedet, um ihn zu befreien, doch sie schlugen fehl.
Vollenden Sie, was ich nicht vollenden konnte. Bringen
Sie diesen Bericht aus Paris hinaus. Bringen Sie ihn nach London, zu einem
Zeitungsmenschen in der Fleet Street, der ihn drucken und verbreiten kann.
Sobald die Welt die Wahrheit kennt, ist er frei.
Aber beeilen Sie sich. Bitte, bitte, beeilen Sie sich.
Sie halten ihn in einem Turm gefangen, in einer dunklen
Kammer mit einem kleinen, hoch oben liegenden Fenster. Die Wachen sind grausam.
Es gibt keinen Ofen, um ihn zu wärmen. Keine Toilette. Seine Exkremente häufen
sich in einer Ecke. Er hat kein Spielzeug. Keine Bücher. Nichts auÃer Ratten.
Das Essen, das er bekommt, legt er in die Ecke, um die Ratten von sich
fernzuhalten. Er weià nicht, dass seine Mutter tot ist, und schreibt mit einem
Stein an die Wand â Mama, bitte â¦
Sie wissen, von wem ich spreche. Von welchem Gefangenen
in dem Turm. Ja, von ihm.
SchlieÃen Sie diese Seiten nicht. Lesen Sie weiter. Ich
flehe Sie an. Einst waren Sie mutig. Einst waren Sie gütig. Das können Sie
wieder sein.
Mein Name ist Alexandrine Paradis.
Ich bin siebzehn Jahre alt.
Viel älter werde ich nicht werden.
Ich halte inne. Die Verfasserin erwähnt Robespierre und einen
Gefangenen in einem Turm â¦
Denselben Robespierre? Denselben Gefangenen?
»Das kann nicht sein«, sage ich. »Unmöglich.«
Ich nehme das Miniaturbild des Jungen in die Hand. Ich
betrachte sein Gesicht und die ernsten blauen Augen und weiÃ, wo ich ihn schon
einmal gesehen habe â in G.s Fotostapel, den er und Dad am Abend unserer Ankunft
durchgesehen hatten. Neben den Fotos von dem Herzen in der Glasurne gab es
eines von dem Sohn Ludwigs XVI . und Marie
Antoinettes.
Was ist mit diesen Fotos passiert? Wo sind sie jetzt? Ich
denke an das Abendessen zurück â Lili wurde wütend und fegte sie vom Tisch. Wo
hat sie sie hingetan? Ich fange an zu suchen, das winzige Porträt noch immer an
mich gedrückt. Die Fotos sind nicht auf dem Esstisch. Nicht in der Küche. Nicht
auf dem Couchtisch. Und auf keinem der Bücherregale. Vielleicht sind sie
überhaupt nicht hier. Sondern in Dads Aktenmappe. Vielleicht hat G. sie mit
nach Belgien genommen. Ich suche weiter und mache fast einen Luftsprung, als
ich sie schlieÃlich auf einem Bücherstapel entdecke.
Ich blättere sie durch, finde dasjenige, das ich suche, und
halte es neben das Porträt. Er ist es ganz eindeutig â Louis Charles, der
verlorene König von Frankreich.
»Das kann nicht sein«, sage ich wieder.
Aber so ist es, flüstert eine Stimme in mir.
So ist es.
  19 Â
Ich lege das Foto weg. Das Porträt stecke
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