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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Vordertreppe hinab.
    Der Dauphin liebt mich!, krähte ich. Und eines Tages
wird mich Paris lieben! Und ich werde die berühmteste Schauspielerin von ganz
Frankreich sein!
    Manchmal sehe ich es noch vor meinem inneren Auge – das
Mädchen, das ich war. Lachend rennt es in seinen abgewetzten Reithosen und dem
geborgten Gehrock davon. Es wirbelt im Marmorhof im Kreis herum, geradezu
schwindlig vor Glück.
    Ich sehe dieses Mädchen, kenne es aber nicht.
    Ich lege das Tagebuch kurz weg und schließe die Augen. Auch
ich sehe das Mädchen vor meinem geistigen Auge. Ich höre seine Stimme. Und ich
will, dass es mir den Rest seiner Geschichte erzählt.
    Gerade als ich die Augen wieder öffne, höre ich das Geräusch
eines Schlüssels in der Tür. Es ist Dad, und das ist schlecht. Sicher hat ihm
Minna erzählt, ich hätte gestern fünftausend Euro ausgegeben. Er wird mich
fragen, wofür, und ich habe keine Lust, es ihm zu sagen. Ich bin nicht bereit
für den Dritten Weltkrieg in diesem Moment.
    Ich nehme meine Tasche, stopfe das Tagebuch hinein und
sprinte in mein Zimmer. Schnell streife ich meine Jeans ab und krieche ins
Bett. Ich höre ihn die Wohnung betreten und seine Sachen abstellen. Ein Schuh
fällt zu Boden, dann ein zweiter. Schritte nähern sich meinem Zimmer.
    Â»Andi?«, fragt er flüsternd durch den Türspalt.
    Ich antworte nicht. Atme einfach weiter. Langsam und
gleichmäßig. Ich habe mich auf die Seite gedreht, also kann er mein Gesicht
nicht sehen. Er macht die Tür ein bisschen weiter auf. Das Licht im Gang wirft
seinen Schatten an die gegenüberliegende Wand.
    Â»Andi? Schläfst du?«
    Früher, als wir klein waren, hat er mir und Truman manchmal
einen Gutenachtkuss gegeben. Wenn er von der Arbeit heimkam. Aber jetzt tut er
das nicht. Er bleibt einfach noch eine Weile stehen. Dann schließt er die Tür.
    Ich atme tief aus und fühle mich erleichtert.
    Und traurig.
    Â Â 27  
    Es ist Morgen. Ich höre eine Kirchenglocke läuten. Und
    Pferde, die im Stall wiehern. Ich rieche Heu und Kühe.
    Â»Wach auf, Alex«, flüstert eine Stimme in mein Ohr. »Papa
sagt, du sollst ihm mit den Marionetten helfen. Wach auf, du Schlafmütze, wach
auf …«
    Ich öffne die Augen. Eine riesige Marionette aus Papiermaschee
steht über meinem Bett. Ich kann ihre Hakennase und ihr spitzes Kinn sehen,
ihren bösen kleinen Mund. Ihre verrückten Glasaugen starren mich an. » WACH AUF !«, schreit sie.
    Ich schreie auch. Und sitze kerzengerade in meinem Bett.
Entsetzt blicke ich mich im Zimmer um. Aber es ist niemand da. Keine
Psycho-Marionette. Weder Pferde noch Kühe. Ich bin in keinem Stall. Sondern in
G.s und Lilis Haus. In ihrem Gästezimmer. Es war bloß ein Traum, sage ich mir.
Beruhige dich. Ich hole tief Luft und versuche, mein wild hämmerndes Herz,
meine zitternden Hände zu beruhigen.
    Es sind die Tabletten. Wieder einmal. Ich muss die Dosis
reduzieren. Die Traurigkeit ist schlimm, aber eine einsachtzig große Puppe ist
auch kein Witz.
    Graues Morgenlicht fällt schräg durch mein Fenster. Wie spät
ist es, frage ich mich. Wie lange habe ich geschlafen? Ich greife nach meiner
Uhr auf dem Nachttisch. Neun Uhr morgens. Nicht gut. Eigentlich wollte ich um
diese Zeit schon in der Abélard-Bibliothek sein. Es ist bereits Donnerstag und
eine Unmenge Arbeit liegt noch vor mir, wenn ich am Sonntag von hier weg will.
Ich nehme meine Tabletten – zwei diesmal, keine drei – und greife nach meiner
Jeans. Sie liegt auf dem Boden, wo ich sie letzte Nacht fallen gelassen habe.
Ich ziehe sie unter der Decke an. Von einer Heizung kann man hier eigentlich
nicht sprechen. Sie funktioniert so gut wie gar nicht.
    Gerade, als ich aufstehen will, klingelt mein Handy. Ich
taste um mich herum, bis ich es finde, und blicke mit verschlafenen Augen auf
das Display, kann aber die Nummer nicht erkennen.
    Â»Hallo?«, melde ich mich und versuche, nicht so zu klingen,
als sei ich gerade erst aufgewacht.
    Â»Hey. Hier ist Virgil.«
    Â»Virgil?«, wiederhole ich verwundert. Ich frage mich, ob ich
erneut halluziniere.
    Â»Ja. Bist du immer noch in Paris?«
    Â»Ja, bin ich.«
    Â»Das überrascht mich. Ich dachte, du wärst schon wieder
fort.«
    Ich spüre einen Stich, als mir die letzte Nacht wieder
einfällt und das ganze beschissenes Zeug, das ich gesagt habe. »Hey, tut mir
leid

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