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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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die Prinzessin von Lamballe. Man hatte sie getötet, weil sie um den
König geweint hatte. Die Septemberhunde hatten sie in Stücke gerissen.
    Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war
sie fort. Einst machten sie mir große Angst – die Prinzessin und die anderen,
aber inzwischen hatte ich mich an sie gewöhnt.
    Ich wandte mich wieder meiner Zeitung zu und erfuhr,
dass sich die Nationalversammlung erneut über die Taten des Grünen Mannes
empörte. Und dann las ich Folgendes: Bonaparte hatte den Preis für meinen Kopf
erhöht. Er bot inzwischen zweihundert Francs dafür.
    Ich fühlte mich geschmeichelt. Judas hatte Jesus für
weit weniger verkauft. Und eines Tages, ziemlich bald sogar, würde Fauvel mich
verkaufen.
    Â Â 29  
    Â»Wow«, sagte ich zu mir selbst, als ich zur nächsten Seite
    blätterte, »das ist ziemlich abgefahren. Alex redet mit Toten.«
    Das habe ich auch getan, zu Hause in Brooklyn, aber ich hatte
eine Entschuldigung. Ich war von Qwellify benebelt. Sie nicht.
    Ich blicke auf, und da sich die Schlange keinen Schritt
vorwärts bewegt hat, lese ich weiter:
    27. April 1795
    Jetzt muss ich über ihn schreiben, über Louis Charles.
Ich muss erzählen, wer er war. Seine Häscher nennen ihn Feind der Republik,
Viper und Wolfsjunges. Weil sie schlau sind. Schlag ein Kind, wirf ein Kind in
der Kerker, lass ein Kind verhungern – und die Welt bezeichnet dich als
Ungeheuer. Schlag ein Wolfsjunges, kerkere es ein, lass es verhungern – und man
nennt dich einen Helden.
    Er war kein Wolfsjunges. Er war sanft und freundlich.
Höflich und mutig. Schon mit vier Jahren war er ein Staatsmann und parierte die
Fragen von Ministern und Nobelmännern, während andere Kinder seines Alters noch
nicht einmal das Alphabet aufsagen können.
    Nun, junger Herr!, ruft der italienische Botschafter.
Sagen Sie mir, wer ist mächtiger – die österreichische Armee oder die
spanische? Wie soll er eine solche Frage beantworten? Österreich wird von
seiner Großmutter regiert, Spanien von seinem Cousin. Preist er den einen,
beleidigt er den anderen. Alle am Tisch drehen den Kopf und sehen ihn an. Seine
Mutter. Sein Vater. Dutzende von Höflingen. Alle Augen sind auf ihn gerichtet.
    Mein Herr, ich kann nicht sagen, wer mächtiger ist, nur
wer am mächtigsten ist, antwortet er mutig. Weder Österreich noch Spanien,
sondern mein glorreiches Frankreich.
    Die Gäste lachen und klatschen. Alle sind erfreut. Er
lächelt, sitzt kerzengerade auf seinem Stuhl, aber unter dem Tisch knüpfen
seine kleinen Hände Knoten in die Serviette.
    Ich locke ihn fort, sobald es mir möglich ist. Wir
gehen auf die Terrasse, lauschen den Eulen, beobachten Fledermäuse, die über
den Brunnen herabstoßen, und ich erzähle ihm Geschichten von Paris. Ich erzähle
ihm von Luc, dem Zwerg, der statt Händen Flossen hat und mit den Füßen Trompete
spielt. Von Seraphina, die auf dem Rücken von Pferden reitet. Von Tristan und
seinen tanzenden Ratten.
    Ich erzähle ihm vom Palais Royal um Mitternacht, wenn
es von lärmender Musik und hellem Fackelschein erfüllt ist, und von all den
Wunderdingen, die es dort zu sehen gibt – Schlangenbeschwörer mit zischenden
Vipern, mannsgroße Puppen, die für einen Sou zum Leben erwachen, ein Mann mit
einem Loch in der Brust, durch das man sein schlagendes Herz sehen kann.
    Er glaubt nicht, dass ich mich an solchen Orten
herumtreibe. Noch dazu allein. Er war noch nie allein in seinem ganzen Leben,
kein einziges Mal, und kann es nicht fassen.
    Als es dunkel wird, tritt der Hof in den Garten hinaus,
um das Feuerwerk zu bestaunen. Wir sitzen im Gras und beobachten, wie die
Raketen über uns explodieren. Das liebt er mehr als Schokolade, seine
Zinnsoldaten und selbst sein Pony. Er liebt das Glitzern der Fontänen und
Kaskaden und sagt die seltsamsten Dinge, wenn er sie bewundert.
    Sie sehen aus wie zerbrochene Sterne.
    Oder – Sie sehen aus wie Mamans Diamanten.
    Oder – Sie sehen aus wie die Seelen im Himmel.
    Und einmal – Sie machen mich traurig, weil sie so schön
sind.
    Schöne Dinge sollten dich glücklich machen, Louis
Charles, erwidere ich. Der Feuerwerksmeister macht sich doch nicht eine so
große Mühe, um dich zu betrüben.
    Sie machen mich ja glücklich. Nur manchmal eben nicht.
    Warum nicht?
    Weil schöne Dinge nie von Dauer sind.

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