Das Blut der Lilie
fest, dass ich ihm den ganzen Tag
vorsingen würde, wenn er es wollte.
Ich stelle mir seine Hände vor, während ich seinem Atem
lausche â mit der einen hält er immer noch das Telefon fest. Die andere liegt
vielleicht auf seiner Brust. Ich stelle mir sein Gesicht vor, es ist schön und
entspannt, und ich wünschte, ich könnte es sehen. Ich wünschte, ich könnte mit
dem Handrücken seine Wange berühren. Mit meinen Fingern seine Lippen. Wer hätte
gedacht, dass es so viel intensiver ist, einem schlafenden Typen zu lauschen,
als mit ihm zu schlafen.
Ich höre noch ein paar Minuten zu, dann flüsterte ich ins
Telefon: »Hey, Virgil ⦠gute Nacht.«
  28 Â
Zuerst war ich verwirrt, weil ich nicht durchgeblickt habe.
Aber jetzt habe ich den Ablauf durchschaut.
Mein Job hier in der Abélard-Bibliothek besteht darin,
Informationen zu bekommen. Und Yves Bonnards Job ist es, mich daran zu hindern.
Yves Bonnard â der Chefarchivar alias der GroÃe und Mächtige Zauberer von Oz
alias der GroÃinquisitor alias der Antichrist.
»Wie ist Ihr Name?«, hat mich Yves Bonnard eben gefragt,
seinen Stift über meinem Bestellschein gezückt.
»Arthur, König der Britannier«, habe ich erwidert. Ich
dachte, das sei lustig. Es würde ihm ein Lächeln entlocken, und er würde ein
Auge zudrücken. Er würde vielleicht sogar schmunzeln und entgegnen: »Wie lautet
Ihre Frage? Wie groà ist die Fluggeschwindigkeit einer ungeladenen Schwalbe?«
Aber nein. Yves Bonnard lächelt nicht. Er lacht nicht. Und er
drückt auch kein Auge zu.
»Wonach suchen Sie?«, fragt er.
»Ich suche den Heiligen Gral«, antworte ich. Weil ich ein
Problem mit Autoritäten habe. Und weil ich eine Idiotin bin.
»Sehr schön«, sagt er. Dann reicht er meinen Bestellschein
zurück und rät mir wiederzukommen, wenn ich ihn ordentlich ausgefüllt hätte.
»Aber ich habe ihn bereits zwei Mal ausgefüllt!«, protestiere
ich.
»Dann werden Sie es beim dritten Mal vielleicht richtig
machen«, entgegnet Yves Bonnard. »Die Instruktionen dafür sind klar und
deutlich an der Wand über dem Zettelkatalog angeschlagen.«
»Ja, ich weiÃ. Ich hab sie zehn Mal gelesen«, erkläre ich
ihm, aber er redet bereits mit der Frau hinter mir.
Ich hatte dreiÃig Minuten in der Schlange gewartet, bis ich
endlich an der Reihe war, meine Bestellscheine abzugeben. Dann durfte ich
zusehen, wie Yves Bonnard sie in eine kleine Vakuumröhre steckte und in die Eingeweide
des Archivs hinunterschickte, wo triefäugige Maulwurfsmenschen in blauen
Laborkitteln holten, was darauf geschrieben stand, und auf Metallkarren heraufbrachten.
Nach der Anzahl der Leute vor mir zu schlieÃen, werde ich jetzt wieder dreiÃig
Minuten warten müssen.
Yves Bonnard raubt mir wirklich noch den letzten Nerv. Ich
bin um elf Uhr hier angekommen, und er hat mich gezwungen, die folgenden zwei
Stunden durch Paris zu hetzen. Ohne Bibliotheksausweis, erklärte er mir, könne
ich unmöglich auf die Archive losgelassen werden, und, um einen Ausweis zu
bekommen, müsse ich einen ordentlichen Personalausweis vorlegen. Ich zeigte ihm
meine Karte von der Ãffentlichen Bibliothek in Brooklyn, aber das genügte nicht.
Also ging ich den ganzen Weg zu G.s Haus zurück, um meinen Pass zu holen. Dann
wieder zum Archiv zurück. Dann zu einem Fotoladen auf der Rue Rivoli, um Fotos
für den Bibliotheksausweis machen zu lassen. Weil es sich um einen
Lichtbildausweis handelt. Dann zurück zum Archiv, das inzwischen über die
Mittagszeit geschlossen hatte. Natürlich. Was hatte ich auch erwartet? Das hier
ist Frankreich. Das ganze Land kommt während der Mittagszeit quietschend zum
Stehen. Also ging ich in ein Café, um die Zeit totzuschlagen. Dann kehrte ich WIEDER ins Archiv zurück, ging wieder zu Yves Bonnards
Schalter, der mich befragte â nein, mich zu meinem Projekt verhörte â, mich
drei Formulare ausfüllen lieà und mir dann schlieÃlich meinen Ausweis aushändigte.
Und das war erst der Anfang.
Ich stellte mich wieder an, an einem anderen Schalter
diesmal, um einen Platz im Lesesaal zu reservieren. Nachdem ich den hatte,
wurde mir der Zettelkatalog gezeigt. Ja, ein Zettelkatalog, denn hier in der Abélard-Bibiliothek
ist man immer noch im dreizehnten Jahrhundert. Ich sah unter Malherbeau, André nach und
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