Das Blut der Lilie
stellte fest, dass die Bibliothek über handgeschriebene Noten, über
eine Notensammlung anderer Komponisten, die er besaÃ, über persönliche Briefe,
persönliche Papiere, sein Testament und seine Todesurkunde verfügt. Ich ging
zurück zu Yves Bonnards Schalter und bat um die Herausgabe von Malherbeaus
Originalnoten, nur um zu erfahren, dass ich nicht einfach darum bitten könne,
sondern einen Bestellschein ausfüllen müsse. Also machte ich das. Aber ich
machte es nicht korrekt. Nicht beim ersten Mal und offensichtlich auch nicht
beim zweiten.
Ich schleppe mich also zum Zettelkatalog zurück. In der N -Sektion arbeitet gerade ein Typ, der aussieht wie ein
Professor. Ich bitte ihn, ob er einen Blick auf meinen Bestellschein werfen und
mir sagen könnte, was ich falsch gemacht habe. Er nimmt ihn entgegen und
erklärt mir, dass ich Sektion und Fachbereich verwechselt hätte und dass ich
meinen Namen genau innerhalb der Linien des dafür vorgesehenen Kästchens
schreiben müsse.
»Das soll wohl ein Witz sein?«
Der Mann schüttelt den Kopf. »Wir nennen ihn Zerberus«,
erklärt er mir flüsternd. »Der dreiköpfige Hund, der die Tore der Hölle
bewacht.«
»Mir würden noch ein paar andere Namen für ihn einfallen.«
»Er ist schwierig, ja. Aber keiner kennt die Archive so gut
wie er. Ich rate Ihnen, sich gut mit ihm zu stellen.«
Ich danke ihm, fülle einen weiteren Bestellschein aus und
stelle mich erneut an. Es ist fast halb vier und das Archiv schlieÃt um fünf.
Ich will diese Unterlagen unbedingt, und zwar jetzt. Die handgeschriebenen
Noten, die alten Briefe, der Totenschein â sie sind nicht nur wichtige
Primärquellen, sondern würden auch groÃartiges Bildmaterial liefern. Ich habe
mir von Lili eine Kamera geliehen und werde alles fotografieren und die Bilder
in PowerPoint speichern. Ich werde Musiksamples von meinem iPod und YouTube
herunterladen. Und ein paar Fotos von Malherbeaus Haus und der StraÃe machen,
in der er wohnte, und diese ebenfalls einfügen. Wenn ich das erledigt habe,
wird schon meine Einleitung spannender sein als ein Ken-Burns-Film.
Zehn Minuten vergehen. Die Schlange bewegt sich kaum. Yves
Bonnard spult bei jeder Person, die ihren Bestellschein abgibt, erneut die
Regeln ab. Er leiert immer weiter. Alle Leute in der Schlange haben Bücher oder
Unterlagen zum Lesen dabei, während sie warten. Ich habe nichts. Ich krame in
meiner Jackentasche nach meinem iPod, um mir damit die Zeit zu vertreiben, dann
fällt mir ein, dass ich ihn gar nicht habe â dass er noch bei Virgil ist.
Und dann erinnere ich mich an den Morgen und frage mich, ob
wirklich alles so passiert ist oder ob ich nur geträumt habe. Es war schön. Und
merkwürdig. Und zärtlich. Ich bin Zärtlichkeit nicht gewöhnt. Das Wort ist ein
Fossil. Die Umweltverhältnisse haben sich geändert und es ist ausgestorben. Wie
das Wollmammon. Es konnte einfach nicht überleben neben Schwanzlutscher. Geile
Schlampe. Oder Gangbang.
Ein paar Sekunden lang gestatte ich mir, mich zu fragen, ob
dieser seltsame Anruf überhaupt etwas bedeutet. Dann beschlieÃe ich, er
bedeutet, dass Virgil meinen iPod hat, und sonst nichts. Weil nichts gefährlicher
ist als Hoffnung.
Ich wühle in meiner Tasche, ertaste meine Börse, meine Schlüssel,
meine Tabletten und denke, vielleicht habe ich eine Illustrierte dabei oder
einen alten Musicianâs-Friend- Katalog,
Hauptsache irgendwas , und dann entdecke ich es â das Tagebuch.
»Dich hab ich ganz vergessen«, sage ich und erinnere mich,
dass ich es am Abend zuvor in meine Tasche gestopft habe, als ich in mein
Zimmer rannte, um meinem Vater nicht zu begegnen.
Es gibt eine Bank entlang der Wand. Ich setze mich. Ich bin
müde von der vielen Rennerei am Vormittag und meine Beine tun weh vom langen
Stehen. Ich werde bloà ein bisschen lesen, die Schlange im Auge behalten und
mich schnell wieder einreihen, wenn es vorwärts geht. Yves Bonnard leiert
weiter. Seine Stimme ist eine Tortur. Sie zu hören, löst den Wunsch in mir aus,
meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.
»⦠dann wird Ihnen einer der Jungarchivare das Material
bringen. Belassen Sie es bis zur Benutzung in den säurefreien Kartons«, sagt
er. »Notizen dürfen Sie nur mit Bleistift machen, nicht mit Kugelschreiber.
Wenn Sie einen Kugelschreiber verwenden, wird er konfisziert.
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