Das Blut der Lilie
Sollten Sie
daraufhin erneut einen verwenden, wird Ihnen die Leseerlaubnis für den restlichen
Tag entzogen. Beim Umgang mit dem Material müssen Sie die zur Verfügung
gestellten Baumwollhandschuhe tragen. Bei Zuwiderhandlung erfolgt eine
Verwarnung. Bei nochmaliger Zuwiderhandlung wird Ihnen die Leseerlaubnis für
den restlichen Tag entzogen. Wenn Sie die Quellen fotografieren wollen, dürfen
Sie das. Im Foto-Raum. Ohne Blitzlicht. Bei Zuwiderhandlung dieser Vorschrift
erfolgt eine Verwarnung. Bei nochmaliger Zuwiderhandlung wird Ihnen die Leseerlaubnis
für den restlichen Tag entzogen â¦Â«
Ich blicke auf die zweihundertjährige, unbezahlbare
historische Quelle in meinen unbehandschuhten Händen. Gut, dass Yves Bonnard
nichts davon weiÃ. Er würde mich erschieÃen lassen.
Ich öffne das Tagebuch, blätterte die ersten paar Einträge
durch und lese noch einmal die Seite, auf der ich aufgehört habe â wo die
Königin Alexandrine bittet, Louis Charles Gefährtin zu werden â, dann gehe ich
weiter zum nächsten Eintrag.
26. April 1795
Hau ab! Bring dich selber um, du verdammte Närrin, aber
nicht mich! Sie verdächtigen mich schon! Sie beobachten mein Haus!
So begrüÃte mich Fauvel, Feuerwerksmeister im Nationaltheater,
an diesem Morgen.
Aber wir sind doch nicht in deinem Haus, Fauvel,
erwiderte ich. Wir sind hier im Café Foy und trinken Kaffee. Zwei Bürger, die
an einem schönen Frühlingsmorgen Höflichkeiten austauschen. Was könnte
unschuldiger sein?
Während ich sprach, griff ich in meine Manteltasche und
zog einen schweren, mit Diamanten besetzten Goldring heraus. Einen von Orléansâ
Ringen. Meine Finger strichen über Fauvels Handgelenk, als ich den Ring in
seine verschwitzte Hand legte. Ich spürte, wie sich sein Puls beschleunigte.
Ich brauche zwanzig Raketen, erkläre ich ihm.
Das ist zu viel! Sie werden merken, dass das Pulver
fehlt! Ist dir nicht klar, in welche Gefahr du mich bringst?, zischte er.
Ich streckte die Hand nach dem Ring aus.
Morgen, sagte er.
Heute Abend, antwortete ich.
Er fluchte, steckte den Ring aber ein. Hast du noch
mehr davon?, fragte er.
Ich habe noch vieles mehr. Eine goldene Uhr. Einen mit
Diamanten besetzten Bilderrahmen. Einen Saphir so groà wie ein Taubenei.
Alles Lüge. Hauptsächlich habe ich noch Zirkusschmuck,
ein paar Ringe und sechs Goldmünzen. Aber das braucht er ja nicht zu wissen. Er
soll glauben, dass ich lebendig mehr wert bin als tot. Ich muss Raketen von ihm
kriegen.
Wo soll ich sie deponieren?, fragte Fauvel.
In der Saint-Roch-Kirche. In der Valois-Krypta, sagte
ich.
Das ist der sicherste Platz. Von dort aus kann ich sie
in den Untergrund schaffen und in den Katakomben verstecken. Fauvel, der Blitze
auf die Bühne schleudert und in Lichtgewittern Dämonen erscheinen lässt, darf
mit Pulver und Raketen durch die StraÃen gehen, ohne etwas befürchten zu
müssen, weil dies seine Arbeitswerkzeuge sind. Ich hingegen kann mir das nicht
erlauben.
Bis heute Abend dann, sagte er.
Ich wünschte ihm einen guten Tag, steckte eine Nelke in
den Mund und nahm die Zeitung, die er zurückgelassen hatte, wie immer in der
Hoffnung, etwas über den Waisenknaben im Turm zu lesen â dass General Barras
inzwischen Mitleid mit ihm hatte, dass er bald frei gelassen würde. Aber es
stand nichts über ihn drin.
Der Grüne Mann hat wieder zugeschlagen, plärrte eine
Schlagzeile. Ein Abgeordneter wurde zitiert, der behauptete, der Grüne Mann sei
ein Ãsterreicher, der für den Tod der Königin Rache nehmen wolle. Eine Hausfrau
meinte, ganz sicher schleudere Luzifer persönlich die Höllenfeuer, während ein
Mitglied der Akademie versicherte, die Explosionen rührten von einer
Ãbersättigung der Gallensäfte auf dem Mond her.
Der Mond hat Blähungen. Wie würde Louis Charles darüber
lachen, dachte ich. Nichts ist lustiger für kleine Jungen als Gefurze. Eines
Tages werde ich ihm das erzählen. Bald. Ich werde seine Hände in den meinen
halten und sagen â
Er wird Ihnen nicht antworten. Er spricht nicht mehr. Er
kann nicht. Es gibt keine Worte, um ausdrücken, wie sehr er gelitten hat. Aber
nicht mehr lange, dann wird er wieder frei sein. Bei uns.
Ich blickte auf und sah eine Frau auf dem Platz sitzen,
wo eben noch Fauvel gesessen hatte. Ihr Kleid war blutüberströmt. Ich kannte
sie. Es war
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