Das Blut der Lilie
Weder Rosen noch
Schnee noch die Zähne meiner Tante. Und Feuerwerke genauso wenig.
Ich weià nichts zu erwidern, zumindest zuerst nicht,
aber ich weiÃ, dass mir etwas einfallen muss, denn meine Aufgabe ist es, ihn
fröhlich zu stimmen. Ich blicke mich um und finde schlieÃlich meine Antwort.
Ein paar schöne Dinge sind doch von Dauer, sage ich.
Das stimmt nicht.
Doch. Sieh dort hinüber. Hinter dir. Auf den Tisch, an
dem deine Familie sitzt. Ich sehe drei schöne Dinge. Als Erstes die Königin,
deine Mutter. Als Zweites den zierlichen Kelch, aus dem sie trinkt, und als
Drittes Versailles, das sich hinter ihr erhebt. All dies ist jetzt hier, wird
morgen hier sein, den Tag darauf und alle Tage danach.
Er lächelt und umarmt mich, ist wieder fröhlich.
Doch jetzt ist seine Mutter tot. Ihr hübscher Kelch zerschmettert.
Der Palast verlassen und leer.
Ich habe gestohlen. Ich habe betrogen. Habe Dinge beschädigt
und Menschen verletzt. Und doch bekümmert mich nichts mehr als der Gedanke,
dass er sich jetzt an jenen Abend erinnert.
Und mich eine Lügnerin nennt.
»Ach du meine Fresse«, sage ich laut. »Die Feuerwerke waren
für ihn. Für den Dauphin. Für Louis Charles. Sie war â¦Â«
»Ruhe bitte!«, bellt Yves Bonnard und funkelt mich an.
»Entschuldigung«, flüstere ich und sinke auf die Bank zurück.
Aber es stimmt. Louis Charles liebte Feuerwerke. Deswegen
wurde aus Alexandrine der Grüne Mann. Damit er sie von seiner Gefängniszelle
aus sehen konnte und wusste, dass sie da war, dass immer noch jemand an ihn
dachte.
Sie sehen wie zerbrochene Sterne aus, hatte er gesagt. Wie
die Seelen im Himmel.
So etwas hätte auch Truman sagen können.
Auch er liebte Feuerwerke. Wir sahen sie uns so oft auf der
Promenade in Brooklyn an. Am Memorial Day. Am vierten Juli. Am Tag der Arbeit.
Manchmal wurden sie auch ohne besonderen Grund veranstaltet. Wir hörten zu
Hause, dass es drauÃen knallte, und griffen nach unseren Schuhen. Die
Erinnerung, wie wir vier lachend im Dunklen die StraÃe hinunterrennen, steht
mir so klar vor Augen, dass ich einen Moment lang glücklich bin. Und dann fällt
mir ein, dass das alles vorbei ist. Truman ist tot. Meine Mutter in der Klinik.
Mein Vater hat uns verlassen.
Ich senke den Kopf und lese weiter. Niemand kann die Tränen
sehen.
28. April 1795
Er war dumm, der König, das ist wahr. Er war
hochfahrend, ein Zauderer, und ging viel zu leichtfertig mit dem Geld des
Landes um, aber das waren nicht seine gröÃten Fehler â sein gröÃter Fehler war,
dass er keinerlei Vorstellungskraft besaÃ.
Er hatte jemanden, der ihm am Morgen die Unterwäsche
reichte, und jemand anderen, dem er sie abends zurückgab. Er hatte einen Palast
mit zweitausend Fenstern. Silberne Kandelaber. Gemälde über seinem Abtritt. Was
hätte er sich noch vorstellen sollen?
Wenn je ein Kind in seinem Blickfeld auftauchte, das
halb verhungert auf einem kahlen Feld stand, wenn er je das Klagen einer armen,
in Lumpen gehüllten Mutter an einem winzigen Grab vernahm, konnte er sich immer
mit dem Gedanken beruhigen â wie seine Standesgenossen übrigens auch â, dass
dieses Kind deshalb hungerte und diese Mutter deshalb trauerte, weil es der
Wille Gottes war.
Und doch fällt es mir selbst jetzt schwer, ihn zu
hassen, denn ich glaube, er hatte nichts Böses im Sinn. Man schlägt ja seinen
Hund nicht, weil er keine Katze ist. Er wurde als Hund geboren und konnte daran
nichts ändern. Der König wurde als König geboren und konnte auch nichts ändern
daran.
Es hatte Warnungen gegeben. So viele. Beachtet hat er
keine. Manchmal lieà er seine Soldaten aufmarschieren und drohte, den
ungebärdigen Pariser Mob niederzuwerfen. Oder er redete davon, den Hof in eine
sichere Grenzstadt zu verlagern, wo er leichter verteidigt werden konnte. Doch er
tat nichts. Handelte nicht. Weder die Aufstände in Paris konnten ihn dazu
bewegen, noch die Zusammenkunft der drei Stände. Weder der Schwur der
Abgeordneten im Ballhaus, noch der vierzehnte Juli 1789.
An diesem Tag schnellte der Brotpreis in Paris in unerschwingliche
Höhen, und es ging das Gerücht, in den AuÃenbezirken der Stadt sammelten sich
Bataillone von Soldaten. Wütend und voller Angst rotteten sich Tausende Pariser
vor dem Palais Royal zusammen, wo Desmoulins auf einen Tisch sprang und die
Leute drängte, sich
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