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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben
und drucken.
    Er war tief bewegt und blickte uns alle der Reihe nach
mit Tränen in den Augen an. Warum jubelt ihr nicht?, fragte er. Warum weint ihr
nicht vor Freude? Versteht ihr denn nicht? Es bedeutet, dass wir ohne Angst vor
den königlichen Zensoren Theater spielen können. Dass wir schreiben und spielen
können, was wir wollen.
    Mein Onkel war seltsam still. Er aufgehört zu hämmern
und sah aus dem Fenster. Er wirkte abwesend und bekümmert, als würde er etwas
sehen, was wir nicht sehen konnten.
    Verstehst du nicht, René?, fragte mein Vater mit
bewegter Stimme. Es ist ein neuer Anfang, der Anfang von etwas Außergewöhnlichem.
    Mein Onkel drehte sich zu ihm um. Ja, Theo, sagte er.
Es ist der Anfang vom Ende.
    Ich lese den Eintrag zu Ende und werfe einen Blick auf die
Schlange vor dem Schalter des Archivars. Es sind noch immer zehn Leute vor mir.
Die Frau, die hinter mir stand, ist gegangen. Wahrscheinlich hat sie aufgegeben.
Es ist fast vier. Nicht mehr lange, bis ich an der Reihe bin, hoffe ich.
    Ich blätterte um und denke an die Schulstunden über die
Französische Revolution zurück, rekonstruiere den Ablauf der Ereignisse. Der
Fall der Bastille war nur das Aufwärmtraining. Es sollte noch ziemlich schlimm
werden in Versailles. Wirklich übel. Schon bald danach. Und Alex ist dort,
mittendrin.
    Â Â 30  

    29. April 1795
    Ich vestecke mich, Alex!, rief Louis Charles. Zähl bis
zehn und such mich dann!
    Er schoss unter dem Tisch hervor, wo wir die vom Teller
seiner Mutter stibitzte Schokolade gegessen hatten. Ich zog meine Maske übers
Gesicht und begann zu zählen.
    Es war Sommersonnenwende. Die Königin und ihr Kreis
führten in der Obelisken-Grotte ein Maskenstück für ihre Kinder auf. Sie
hoffte, es würde Louis Charles gefallen. Die Königin war die Titania. Der
hübsche Graf Fersen spielte den Oberon. Der König, ermüdet von der Jagd, lag im
Bett. Musik war zu hören. Laternen glommen in den Bäumen. Es hatte ein Diner
gegeben, mit Eis und Champagner zum Nachtisch. Hinterher spielten alle
Verstecken.
    Louis Charles trug eine Affenmaske. Ich die eines
Vogels, eines Spatzen. Als ich mit Zählen fertig war, lief ich ihm nach. Ich
sah ihn unter einem Rosenbusch kauern, tat aber so, als hätte ich ihn nicht
bemerkt. Er schoss davon, ich hinter ihm her, rief seinen Namen, hob Steine auf
und sah darunter nach oder schüttelte Rosen und tat so, als hoffte ich, er
würde herauspurzeln. Die ganze Zeit über kicherte er hinter vorgehaltener Hand
und lief immer tiefer in die Grotte hinein. Es war dunkel dort drinnen. Hier
waren keine Laternen aufgehängt. Ich hatte nur das Mondlicht, um mich zu
orientieren.
    Louis Charles?, rief ich, hinter ihm herlaufend. Komm
jetzt heraus. Wir sind zu weit weg von den anderen. Wir müssen zurück.
    Aber Louis Charles gab keine Antwort.
    Ich ging weiter, den Pfad hinunter. Statuen leuchteten
wie Geister im Mondlicht. Blätter raschelten in der Abendbrise. Ich ging an
einem winzigen Teich, an einem Dickicht aus weißen Rosen vorbei. Dann bog ich
um eine Ecke und sah ihn – nicht Louis Charles, sondern einen Mann hinter einer
Wolfsmaske, der auf einer Bank saß.
    Louis Charles!, rief ich, plötzlich voller Angst. Louis
Charles, wo bist du?
    Was haben wir denn da?, fragte der Mann. Ein kleines Vögelchen
aus den Straßen von Paris? Ein Spatz, der nicht mehr Unrat aus der Gosse pickt,
sondern Schokolade vom Teller der Königin. Wie weit du doch geflogen bist,
kleiner Spatz.
    Louis Charles!, rief ich und wich zurück. Wo bist du?
    Nicht hier, fürchte ich, sagte der Mann.
    Louis Charles? Louis Charles!, rief ich mit brechender
Stimme.
    Es war still. So still, dass ich meinen Herzschlag
hören konnte. Dann sagte der Mann: Komm jetzt heraus, Louis Charles. Unser
Streich ist gelungen.
    Louis Charles sprang hinter ihm hoch. Wir haben dich
zum Narren gehalten, Alex! Wir haben dich reingelegt!, rief er und tanzte um
mich herum.
    Immer noch bebend vor Angst, packte ich ihn und drückte
ihn an mich. Ich war von dem Gedanken beherrscht, was gewesen wäre, wenn ich
den Jungen verloren hätte. Er war mein Schützling. Wenn er entführt worden
wäre? Der König hätte mich bei lebendigem Leib häuten lassen.
    Wer sind Sie?, fragte ich den Mann.
    Er lüftete seine Maske. Seine Augen,

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