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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Waffen und Munition zu beschaffen, um sich selbst und die
Freiheit zu verteidigen. Sie griffen die Bastille an – eine Gefängnisfestung,
in die jeder ohne Gerichtsurteil geworfen werden konnte –, um an Gewehre und in
die Pulverkammern zu kommen. Dies war ein überdeutliches Signal, ein so
grelles, plumpes Menetekel, dass selbst ein Kohlkopf seine Bedeutung verstanden
hätte. Doch an diesem Abend schrieb der König NICHTS in sein Tagebuch. Ich hörte, wie die Königin fassungslos mit einer ihrer Hofdamen
darüber sprach.
    In den darauffolgenden Tagen verfolgten wir in den
Zeitungen, wie Desmoulins zerlumpte Armee die Bastille einnahm und alle
Einwohner von Paris, egal ob reich oder arm, ihren Fall bejubelten. Männer und
Frauen, angefangen vom rüpelhaftesten Bettler bis hin zur Herzogin in Seide,
setzten das Stemmeisen an und rissen das Bollwerk ein.
    Der Sommer schritt voran. Die Gerüchte aus Paris wurden
lauter. Arbeiter aus Saint-Antoine stolzierten in ihren roten Mützen und langen
Hosen durch die Stadt und griffen jeden in vornehmer Kleidung an. Bäcker, die
kein Brot hatten, wurden aus ihren Läden gezerrt und verprügelt. Bei dem
monarchiefeindlichen Stück Karl. kam es zu
stehenden Ovationen. Nach und nach zerbröckelte die alte Welt, und kein
einziges Mal kam es dem König in den Sinn, ein paar der Brocken könnten ihm auf
die Füße fallen.
    Im August verfügte die Nationalversammlung, dass Adlige
Steuern zahlen mussten und den Bauern nicht mehr den Zehnten abverlangen
durften. Dann gingen sie noch weiter: Sie veröffentlichten ein Dokument mit dem
Titel »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«.
    Ich besuchte gerade meine Familie und frühstückte mit ihnen,
als wir zum ersten Mal davon hörten. Meine Familie hatte sich stark verändert.
Meine Brüder waren fett geworden wie Gänse. Meine Mutter sauber und strahlend.
Meine hässliche Schwester hatte ihr hässliches Baby bekommen. Wir alle hatten
uns in unser neues Leben eingefunden und waren zufrieden – alle, bis auf meinen
Vater. Er grübelte. Er seufzte. Er wollte die neuen Stücke sehen, die in Paris
aufgeführt wurden. Er wollte selbst welche schreiben.
    Wenn du nach Paris zurück willst, kannst du allein
gehen, warnte ihn meine Mutter. Warum sollen wir von hier weg, wo wir in
Sicherheit sind und gefüttert werden?
    Wie Kaninchen für den Kochtopf, murrte er.
    Wir hörten die Ausrufer, als wir gerade unseren Kaffee
tranken. Mein Vater rannte los, um eine Zeitung zu kaufen und kam eilig damit
zurück.
    Hört zu! Hört zu, ihr alle!, rief er. Wir sind frei!
Ganz Frankreich ist frei!
    Mein Onkel nagelte gerade ein neues Vordach für unsere
Marionettenbühne zusammen. Frei wovon?, fragte er.
    Von der Tyrannei! Die Nationalversammlung hat ein Dokument
verfasst, das die Menschenrechte verkündet. Die Abgeordneten appellieren an den
König, es zu akzeptieren, stieß mein Vater atemlos hervor. Es besagt – mein
Gott, ich kann es kaum glauben –, es besagt, dass alle Menschen das Recht auf
Freiheit, Eigentum und Sicherheit haben und dass keiner unterdrückt werden
darf. Es besagt, dass alle Menschen gleich sind!
    Scht! Willst du uns alle hinter Gitter bringen? Solche
Reden sind Verrat!, zischte meine Großmutter.
    Sei still, Mutter, hör zu!, sagte mein Vater. Artikel
eins – Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.
Das ist doch erstaunlich? Es bedeutet, René, dass du und ich die gleichen
Rechte haben wie der König!
    Was ist mit den Frauen?, fragte meine Tante. Haben sie
irgendwelche Rechte für die Frauen gemacht?
    Hör auf mit den Frauen, Lise! Frauen haben nichts damit
zu tun. Es heißt doch »Menschen–Rechte«, oder etwa nicht?, sagte mein Vater und
deutete auf die Schlagzeile. Und das, René, hör dir das an … Artikel drei – Der
Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volk. Keine
Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich
vom Volk ausgeht.
    Was heißt das?, fragte meine Tante.
    Dass der König nicht von Gottes Gnaden regieren kann,
wie uns immer gesagt wurde, sondern einzig durch den Willen des Volkes. Lass
das verdammte Gehämmere sein, René! Hör dir Artikel elf an. Das ist der
Erstaunlichste von allen – Die freie Äußerung von Meinungen und Gedanken ist
eines

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