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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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uns
stürzen.
    Louis Charles rief keine Befehle mehr. Er hatte die
Kerze fallen gelassen. Ich habe Angst, Alex, flüsterte er in mein Ohr, die Arme
fest um meinen Hals geschlungen. Ich will dieses Spiel nicht mehr spielen.
    Ich hatte selbst so große Angst, dass ich ihm weder
antworten noch meine Beine bewegen konnte. Vor meinem geistigen Auge sah ich
erneut den abgeschlagenen Kopf und die mit Blut beschmierten Hände derer, die
darum tanzten. Ich sah dieselben Hände nach Louis Charles greifen und das
befreite mich aus meiner Starre. Wie eine Besessene warf ich mich selbst gegen
die Spiegeltür. Versilbertes Glas zersplitterte an meinen trommelnden Händen.
    Ã–ffnet die Tür! Macht auf! Ich habe den Dauphin! Könnt
ihr mich hören? Macht die verdammte Tür auf!
    Ich nahm einen Stuhl und schleuderte ihn gegen die Tür.
Wie sich Louis Charles dabei auf meinem Rücken halten konnte, weiß ich nicht.
Wieder und wieder schlug ich mit dem Stuhl dagegen. Die Schreie der Massen
kamen näher. Sie waren überall. Ich hörte, wie der Hauptmann seinen Männern
befahl: Achtung! Nicht schießen! Noch nicht … Legt an, wartet! Der Stuhl
zerbrach. Ich nahm ein Stuhlbein und hämmerte wie eine Wahnsinnige gegen die
Tür, und schließlich ging sie auf.
    Papa!, rief Louis Charles.
    Louis Charles!, rief der König. Oh, Gott sei Dank, du
bist in Sicherheit!
    Der König riss seinen Sohn in die Arme. Hinter ihm kam
die Königin herbeigeeilt. Die Gardisten schoben mich in die Gemächer des
Königs. Dann versperrten sie die Tür und rückten Möbel davor. Hatte der Mob uns
gesehen? Hatte die aufgebrachte Menge den Saal erreicht, bevor wir durch die
Tür entkommen waren?
    Ich stand regungslos da und wartete, kaum atmend, dass
die Tür eingeschlagen wurde. Der König, selbst höchst erregt, versuchte, seine
weinende Frau zu beruhigen. Er war zu ihr gegangen, um sie in Sicherheit zu
bringen, erfuhr ich. Deswegen hatte er unser Klopfen nicht gehört. Sie wäre fast
getötet worden. Der Mob war in ihre Räume eingedrungen, und sie hatte gerade
noch entkommen können, indem sie barfuß durch die Palastgänge gehetzt war. Sie
drückte Louis Charles und Marie-Thérèse an sich und wollte sie nicht mehr
loslassen.
    Aber Louis Charles riss sich los. Mama, Papa, seht
her!, rief er und deutete auf mich. Alex ist verletzt! Ihre Hände bluten!
    Ich blickte auf meine Hände hinab. Sie waren blutverschmiert.
Ich hatte es nicht bemerkt.
    Sie hat gegen die Tür geschlagen, damit ihr uns hört.
Dabei sind die Spiegel zerbrochen, und sie hat sich geschnitten, sagte Louis
Charles.
    Ich war in den Palast zurückgerannt, als es klüger
gewesen wäre, draußen zu bleiben. Ich hatte mein Leben riskiert für Louis
Charles. Ich hatte mir die Hände zerschnitten und nichts gespürt. Keinen
Schmerz, nur Angst – um ihn.
    Ich glaube, das war der Moment, als die Revolution
begann.
    Nicht für Paris oder die Franzosen.
    Sondern für mich.
    Mit klopfendem Herzen lese ich den Eintrag zu Ende. Ich hatte
solche Angst um sie. Solche Angst, dass sie es nicht schaffen würden. Ich
spürte Alex’ Angst. Einen Moment lang war ich selbst dort. Direkt bei ihr, als
sie die Treppe in den Spiegelsaal hinaufrannte. Ich spürte, wie ihrHerz
hämmerte. Ich hörte das Geschrei des näherkommenden Mobs.
    Wer ist der Mann mit dem Dreispitz? Derjenige, der die Menge
vor dem Palast aufstachelte? Was passiert mit Alex, nachdem Versailles gefallen
ist? Bleibt sie bei Louis Charles?
    Ich blättere zum nächsten Eintrag, weil ich es unbedingt
herausfinden will. Nachdem ich gerade etwa zwei oder drei Absätze gelesen habe,
knistert plötzlich die Lautsprecheranlage und eine Stimme verkündet, dass die
Bibliothek in fünfzehn Minuten schließen werde und jeder seine Medien am
vorderen Schalter abgeben solle.
    Was?
    Ich blicke auf. Die Schlange ist verschwunden. Alle sind
fort. Yves Bonnard stapelt Kisten auf einen Rollwagen. Die Leute, die den
ganzen Tag hier geforscht haben, schließen ihre Taschen, ziehen ihre Mäntel an
und bringen ihr ausgeliehenes Material zum Schalter zurück. Ich sehe auf die
Uhr an der Wand. 16.45 Uhr. Ich habe die letzten fünfundvierzig Minuten
gelesen. Ich habe vergessen, wo ich war und was ich tun wollte. Ich habe die
Chance verpasst, mir Malherbeaus Musik zu besorgen.
    Ich kann es nicht fassen. Wo war ich

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