Das Blut der Lilie
gewesen? In Trance?
Ich stehe auf und gehe zu meinem Lesetisch. Ich nehme meinen
Notizblock, meinen Ordner und meine Stifte und stopfe alles in meine Tasche.
Eine Frau mit Perlenkette und quietschenden Schuhen rückt einen verschobenen
Stuhl zurecht, fegt einen vergessenen Stift vom Tisch und rüttelt an der
Ausgangstür.
»Wir schlieÃen in ein paar Minuten«, sagt sie resolut.
Hinter dem Schalter schiebt Yves Bonnard seinen Wagen zum
Aufzug. Schmatzend schlieÃen sich die Türen hinter ihm. Nacheinander gehen die
Deckenlampen aus. Ich bin so wütend auf mich, dass ich schreien könnte. Morgen
ist Freitag. Ãbers Wochenende ist die Bibliothek geschlossen. Mir bleibt nur
noch ein Tag. Nur noch ein einziger Tag. Wie soll ich das Ganze an einem
einzigen Tag schaffen? Wenn ich so weitermache, werde ich am Sonntag nirgendwo
hinfliegen.
Ich stecke das Tagebuch in meine Tasche, und während ich das
tue, kommt mir plötzlich ein ziemlich merkwürdiger Gedanke: Alex will es so.
»Ja, richtig. Alex will es so«, sage ich zu mir selbst.
»Alex, die seit über zweihundert Jahren tot ist. Wer ist hier bitte verrückt?«
Die letzten Lichter gehen aus. Der Lesesaal ist leer.
Es ist niemand mehr da, um mir zu antworten.
  31 Â
Lili ist zu Hause.
Ich bin noch zwei StraÃen von ihrem und G.s Haus entfernt,
kann aber schon die Küchendüfte im Wind riechen â Butter, Zwiebeln, warmes
Brot. Ich gehe schneller und fünf Minuten später laufe ich die Treppe zum Loft
hinauf.
»Andi? Bist du das?«, ruft sie aus der Küche, als ich die Tür
öffne. »Ich bin so froh, dass du da bist! Mach doch bitte den Fernseher an.
Kanal Vier. G. hat gerade angerufen. Er und Lewis sind gleich in Agenda zu sehen.
Lewis ist in dem Pariser Studio und G. live aus Brüssel zugeschaltet.«
»Was ist Agenda ?«,frage ich,
während ich meinen Mantel aufhänge und meine Tasche auf den Tisch stelle. Dad
ist oft im Fernsehen, aber ich glaube, in dieser Sendung war er noch nie.
»Das ist eine Talkshow «, antwortet sie.
Ich schalte den Fernseher ein. Die Sendung läuft bereits.
Während ich mich aufs Sofa setze, gibt der Moderator, Jean-Paul Soundso, ein
hipper Typ in schwarzem Rolli und mit schwarzer Hornbrille, eine Zusammenfassung
der wichtigsten Ereignisse des Abends. Lili eilt mit einem Tablett herüber, auf
dem zwei dampfende Suppenschalen stehen. Sie stellt das Tablett auf dem
Couchtisch ab und reicht mir eine Schale.
»Danke«, sage ich und nehme sie ihr ab.
Es ist Zwiebelsuppe â mein Lieblingsessen â mit einer dicken
Scheibe Röstbrot, das mit Käse überbacken ist. Es riecht köstlich. Den Blick
auf den Bildschirm geheftet, mache ich mich über das Röstbrot her und warte auf
Dads und G.s Auftritt, aber der erste Gast ist Carla Bruni, die über ihr
neustes Album spricht.
Lili eilt in die Küche zurück, um ihren Wein zu holen. Carla
Bruni redet und singt, dann folgt ein Werbespot. Als die Sendung wieder
weitergeht, sitzt Jean-Paul an einem Tisch, ihm gegenüber mein Vater. G.s
Gesicht ist auf einem Bildschirm hinter ihnen zu sehen.
»Verehrte Zuschauer zu Hause und hier im Studio, ich möchte
Sie bitten, einen Blick auf dieses Bild zu werfen«, sagt Jean-Paul. Die Kamera
zoomt auf ein Schwarz-WeiÃ-Foto in seiner Hand. »Sie sehen eine Glasurne. Sehen
Sie genauer hin. Erkennen Sie, was sie enthält? Es ist ein Herz. Ja. Ein
menschliches Herz.« Murmeln aus dem Publikum. Gedämpfte Ausrufe des Erstaunens.
»Ich habe genauso reagiert«, fährt Jean-Paul fort. »Dieses kleine zarte Herz
symbolisiert ein groÃes, bis heute ungelöstes Rätsel â ein Rätsel, das vor
zweihundert Jahren in Paris, in den letzten Tagen der Revolution, seinen Anfang
nahm und hoffentlich in ein paar Tagen in Paris seine Lösung finden wird.«
Die Kamera schwenkt auf Jean-Paul zurück. »Wem hat dieses
winzige Herz gehört?«, fragt er. »Manche behaupten, es sei das Herz Ludwigs XVII ., des verlorenen Königs von Frankreich. Warum wurde
das Herz aus seinem Körper entnommen? Wie konnte es mehr als zweihundert Jahre
überstehen? Um diese Fragen zu beantworten, hat die französische
Adelsvereinigung Mémorial de France, die die königliche Gruft in der Kathedrale
von Saint-Denis verwaltet, die Hilfe des renommierten amerikanischen Genetikers
Dr. Lewis Alpert, der für
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