Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
Saint-Denis
gebracht.«
    Â»Ja, das ist korrekt«, sagt G. »Allerdings war die Basilika
während der Revolution entweiht worden. Viele der Krypten waren geöffnet und
ihr Inhalt auf die Straße geworfen worden. Man nimmt an, Pelletan wollte das
Herz behalten, bis er es unbeschadet nach Saint-Denis bringen konnte. Und, um
es zu konservieren, legte er es in einen Glasbehälter mit Alkohol.«
    Â»Wann brachte er es nach Saint-Denis?«
    Â»Gar nicht. Er behielt es. Und zwar so lange, dass der
Alkohol verdunstet und das Herz vertrocknet ist. In der Zwischenzeit war
Frankreich erneut Monarchie geworden. Pelletan versuchte, das Herz dem neuen
König zu übergeben, aber der wollte es nicht. Schließlich nahm es der
Erzbischof von Paris. 1830 brach eine zweite Revolution aus, und der Palast des
Erzbischofs wurde geplündert. Ein Aufständischer zerschlug den Glasbehälter und
das Herz ging verloren. Einige Tage später ging Pelletans Sohn in den Palast,
um danach zu suchen. Er fand es, legte es in eine neue Urne und sperrte sie
weg. Jahre danach wurde das Herz Don Carlos de Bourbon übergeben. Er brachte es
in die Kapelle eines österreichischen Schlosses, wo Louis Charles’ Schwester
Marie-Thèrèse, die die Gefangenschaft überlebt hatte, einige Jahre verbrachte.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Schloss geplündert, aber die Familie
des Herzogs rettete das Herz und brachte es, wie ich bereits erwähnt habe, nach
Frankreich zurück. Es wurde dem Herzog von Beauffremont übergeben, der die
königliche Gruft in der Kathedrale von Saint-Denis verwaltet. Dort wurde es in
die Krypta gestellt, wo es heute noch steht.«
    Â»Eine erstaunliche Geschichte, Professor Lenôtre. Aber wenn
wir das alles wissen – wenn wir wissen, dass das Herz Louis Charles gehörte,
warum sind Sie dann hier, Dr. Alpers? Warum macht sich der Mémorial de France
diese Mühe und scheut auch die Ausgaben nicht, die die Durchführung eines DNA -Tests bedeuten?«, fragt Jean-Paul.
    Â»Weil wir es eben nicht wissen«, antwortet Dad.
    Â»Aber die Geschichtsbücher …«, beginnt Jean-Paul.
    Â»Geschichte ist Fiktion«, unterbricht ihn Dad.
    Â»Aha! Da wären wir also wieder«, wirft G. ein.
    Â»Oje. Sie werden doch nicht anfangen, sich im Fernsehen zu
streiten«, sage ich zu Lili.
    Lili zuckt die Achseln. »Warum nicht? Sie streiten sich doch
auch sonst überall.«
    Â»Was meinen Sie, Professor Lenôtre?«, fragt Jean-Paul.
    Â»Ich hab mich schon gefragt, wie lange er brauchen würde, um
mit diesem Thema zu kommen«, sagt G.
    Jean-Paul lächelt unsicher und wendet sich meinem Vater zu:
»Dr. Alpers, Sie vertreten hier den naturwissenschaftlichen Standpunkt.«
    Â»Keineswegs. Diese Meinung wurde bereits von Robespierre
geäußert.«
    Jean-Paul will etwas sagen, aber G. schneidet ihm das Wort
ab: »Ich bitte dich, Lewis, du glaubst doch nicht wirklich, das Geschichte
Fiktion ist.«
    Â»Natürlich glaube ich das. Geschichte ist eine Kunst, die auf
Interpretation und Spekulation beruht. Wissenschaft beruht allein auf Fakten«,
sagt Dad.
    Â»Fakten, ja«, erwidert G. aufgebracht. »Fakten, die uns
sagen, was wir sind – nämlich eine Menge chemischer Verbindungen. Aber sagen
sie uns, wer wir
sind?«
    Â»Wenn die chemischen Verbindungen zufällig genetisches
Material enthalten, ja, dann sie sagen sie uns auch das«, antwortet Dad.
    Â»Du gibst dich absichtlich begriffsstutzig, Lewis. Ich nehme
an, dass du das für die Kameras tust«, sagt G.
    Â»Begriffsstutzig? Warum? Weil ich Hörensagen nicht mit Analyse
verwechsle?«, fragt Dad mit erhobener Stimme. »Weil ich den Unterschied
zwischen Fiktion und Wahrheit kenne?«
    Â»Weil du dich weigerst, irgendeine Wahrheit anzuerkennen, die
nicht aus einer Petrischale kommt!«
    Â»Oh, bitte!«
    Â»Professor Lenôtre …«, sagt Jean-Paul, aber G. fällt ihm
erneut ins Wort.
    Â»Dieses Herz, von dem wir sprechen«, beginnt er und beugt
sich so weit vor, dass es aussieht, als würde gleich aus dem Fernseher fallen,
»ist allein von Bedeutung, weil es aus diesem oder jenem Protein besteht? Nein!
Es ist bedeutsam dank des historischen Kontexts. Dank jener Geschichten, die
sich darum ranken. Es ist bedeutsam, weil wir wissen – oder bald wissen werden
–, dass es aus dem Körper eines wehrlosen Kindes stammt,

Weitere Kostenlose Bücher