Das Blut der Lilie
das von den
Revolutionären eingekerkert wurde und dem genau die Rechte versagt blieben, die
diese Menschen für die ganze Menschheit durchsetzen wollten â nämlich Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit â, und dessen immense, unaussprechliche Leiden
jeden damaligen oder heutigen Politiker, Strategen, Gelehrten, Experten und
Weltverbesserer beschämen, der behauptet, die idealistischen Ziele der
Revolution rechtfertigten brutale Mittel.« G. lehnt sich mit funkelndem Blick
in seinem Stuhl zurück, dann beugt er sich plötzlich wieder vor und fügt hinzu:
»Und keine verdammte DNA auf der ganzen Welt
könnte das klarer und deutlicher ausdrücken als ich gerade eben!«
Ich verschlucke mich fast an meiner Suppe. Ich kann nicht
glauben,dass
G. solche Ausdrücke im Fernsehen benutzt.
Dad schnaubt. »Wer produziert sich hier vor den Kameras?«,
fragt er.
Er und G. zanken sich ein bisschen weiter. Jean-Paul klopft
gegen seinen Knopf im Ohr.
»Warum sind sie überhaupt befreundet?«, frage ich Lili und
schüttle den Kopf. »Sie tun doch nichts anderes, als sich ständig zu streiten.«
»Das ist schon immer so gewesen. Seit sie Studenten waren«,
antwortet Lili.
»Gegensätze scheinen sich tatsächlich anzuziehen.«
»Sie sind nicht gegensätzlich«, widerspricht Lili. »Sie sind
sich absolut ähnlich: Sie werden beide von ihren Leidenschaften getrieben.
Deswegen sind sie so eng befreundet.« Sie lächelt und fügt hinzu: »Und weil
kein anderer es mit ihnen aushält.«
Die Kamera hat auf Jean-Paul zurückgeschwenkt, der immer noch
gegen seinen Knopf im Ohr tippt und ziemlich verzweifelt wirkt. Ich habe
Mitleid mit ihm. Sicher war ihm nicht bewusst, worauf er sich da einlassen
würde. Dad und G. holen schlieÃlich kurz Luft, und Jean-Paul versucht erneut,
zu Wort zu kommen.
»Es gibt ⦠ähm ⦠Geschichten «, beginnt er und zuckt zusammen
bei dem Wort, »die dieses Herz betreffen. So wurde etwa behauptet, das Kind sei
vertauscht worden. Nach Louis Charlesâ Tod waren Einige überzeugt, der kleine
Prinz sei nicht in dem Turm gestorben, wie von den Machthabern bekannt gegeben.
Sie glaubten, er sei aus dem Gefängnis geschmuggelt und durch ein unbekanntes
totes Kind ersetzt worden, das an seiner Stelle obduziert und begraben wurde.
Professor Lenôtre, erzählen Sie uns doch mehr zu dieser Theorie des vertauschten
Kindes.«
»Gern. Nach der Revolution, in den frühen Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts, traten verschiedene Männer auf, die behaupteten, der
verlorene König Frankreichs zu sein, den man 1795 aus dem Temple-Gefängnis
herausgeschmuggelt habe. Der Ãberzeugendste unter ihnen war ein Mann namens
Karl Wilhelm Naundorff. Einige frühere Bedienstete der königlichen Familie
glaubten tatsächlich, er sei Louis Charles.«
Ãberrascht höre ich zu essen auf. Davon hatte ich keine
Ahnung. Ein paar Sekunden lang klammere ich mich aufgeregt an die Hoffnung,
Louis Charles könnte vielleicht entkommen sein. Vielleicht kam er aus dem
Temple hinaus, änderte seinen Namen und wagte sich erst Jahre später wieder
hervor, nachdem von den Revolutionären keine Gefahr mehr drohte.
»Erwies sich Naundorff als der verlorene König?«, fragt Jean-Paul.
»Nein«, antwortet mein Vater und vernichtet meine Hoffnungen.
»In den neunziger Jahren wurde DNA von seinen
Haaren und Knochen mit der DNA von Marie Antoinettes
Haar verglichen. Die Ergebnisse schlossen jegliche Verbindung zwischen ihm und
der Königin aus.«
»Aber seine Nachkommen erkennen die Resultate nicht an. Sie
behaupten immer noch, er sei der verlorene Prinz gewesen«, fügt G. hinzu.
»Was Frankreich vor ein groÃes Problem stellt, nicht wahr?«,
fragt Jean-Paul.
»Vor ein sehr groÃes«, bekräftigt G. »Falls Naundorff
tatsächlich der Sohn von Ludwig XVI . gewesen ist,
muss die Geschichte umgeschrieben werden. Gleichzeitig würden sich damit ein
paar sehr heikle Erbschaftsfragen ergeben. Sogar der Präsident persönlich interessiert
sich für den Fall. Aufgrund der immensen Bedeutung â und der groÃen Brisanz â
unserer Untersuchungsergebnisse haben wir Dr. Alpers, einen Amerikaner,
gebeten, den Test zu leiten. Dadurch dass wir keinen französischen Genetiker
ausgewählt haben, hoffen wir Vorwürfen zuvorzukommen, die uns
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