Das Blut der Lilie
wurde aus den Gemächern des Königs hinausgedrängt,
zurück in den Spiegelsaal. Dort trugen ein paar Diener â bleich und wie betäubt
â die Toten zusammen. Andere hasteten hin und her, packten Kleider, Schuhe,
Bettwäsche und Parfüm ein â alles, was die Königin für die Reise brauchte.
Wieder andere wussten nicht, wohin. Bitte, Madame, nehmen Sie mich mit, flehte
ein Küchenmädchen und klammerte sich an den Ãrmel einer Hofdame. Ich kann
kochen und Kinder betreuen. Bitte, Madame!
Stubenmädchen und Kammerdienern, Jungen, die für das
Feuer zuständig waren, Lakeien, Köchen, Stallburschen und Gärtnern â allen
wurde gesagt, sie sollten gehen. Sie würden nicht mehr gebraucht, denn
Versailles gebe es nicht mehr. Der König und die Königin würden jetzt in einem
anderen Palast wohnen, in den feuchten und zerbröckelnden Tuilerien â unter
Hausarrest.
DrauÃen sang, johlte und tanzte ein Teil des Mobs immer
noch. Freiheit!, schrie eine Frau. Freiheit für alle!
Freiheit. Das hatten die Demonstranten immer wieder gerufen,
die ganze Nacht hindurch. Sie trugen Fahnen, auf denen das Wort in groÃen
Lettern stand. War das Freiheit? Wenn sie so aussah, wollte ich nichts damit zu
haben. Gewiss, ich war jetzt frei. Frei, mir eine alberne Kokarde an den Hut zu
heften. Frei, dämliche Lieder zu singen. Frei, nach Paris zu gehen und zu
hungern.
Auf den Palaststufen wischte ein Mann Blut auf. Zwei
weitere kehrten Glasscherben zusammen. Ein scheuÃliches Klirren ertönte, eine
hässliche Musik, als diese in einem Kübel landeten.
Ich erkannte diese Melodie â es war der Klang meiner zerbrochenen
Träume.
  35 Â
»Mademoiselle? Hier sind Ihre Kartons.«
Die Stimme erschreckt mich. Ich hatte mich wieder in das
Tagebuch vertieft. »Was?«, frage ich. Viel zu laut.
Der Mann legt den Finger auf die Lippen. »Hier ist das Material,
um das Sie gebeten haben«, sagt er und deutet auf den Wagen neben sich.
»Quittieren Sie bitte den Erhalt. Es sind zusammen fünf Kartons. Einer mit
Amadé Malherbeaus Todesurkunde und Testament. Drei mit Notenblättern. Einer
erhält persönliche Papiere.« Er stellt die Kartons auf den Tisch und reicht mir
ein Klemmbrett.
»Ja, okay. Danke«, sage ich und unterschreibe. »Ach, wissen
Sie, warum keine Geburtsurkunde dabei ist?«
»Wie bitte?«
»Amadé Malherbeaus Todesurkunde ist im Archiv, aber seine
Geburtsurkunde nicht. Warum?«
»Wann ist er denn geboren?«
Ich weiÃ, wann er gestorben ist und wie alt er damals war,
also rechne ich schnell nach. »1775«, antworte ich.
Der Mann lächelt. »Das war vor langer Zeit. Möglicherweise
ist seine Geburtsurkunde bei den vielen Aufständen und Invasionen verschwunden,
die Paris erlebt hat. Vielleicht ist sie verbrannt oder wurde durch Bomben
vernichtet. Oder durch Feuchtigkeit zerstört, wenn sie in Kellerräumen
aufbewahrt wurde, wie so viele Urkunden. Wenn Malherbeau auf dem Land geboren
ist, könnte sie auf dem Dachboden eines alten Rathauses liegen.«
Er nimmt das Klemmbrett zurück, legt es auf den Wagen und
will weggehen. Aber plötzlich bleibt er stehen und dreht sich um. »Oder â¦Â«,
sagt er.
»Oder was?«
»Oder er wurde nicht als Amadé Malherbeau geboren. Vielleicht
unter einem anderen Namen. Unsere Geburts- und Todesurkunden werden jedes Jahr
diesbezüglich abgeglichen, wenn Sie sich die Mühe machen wollen, sie
durchzusehen â¦Â«
Hmm. Daran habe ich bisher nicht gedacht. »Wie viele haben
Sie für 1775?«, frage ich.
»Ein paar Tausend.«
»Ãhm, danke. Ich habe nur einen Tag, wissen Sie. Nicht den
Rest meines Lebens.«
Der Maulwurfsmann macht sich davon, und ich fange an zu
arbeiten. Jetzt ist es 10.15 Uhr, und ich habe vor der Mittagspause noch eine
Menge tun. Gerade als ich den Karton mit der Todesurkunde öffne, höre ich einen
lauten, donnernden Knall.
Verblüfft blicke ich auf. Es ist Yves Bonnard. Er schlägt mit
einem Richterhammer auf den Tisch. »Nummer Zwölf! Handschuhe, bitte!«, bellt
er.
Nummer zwölf bin natürlich ich. Alle anderen Forscher werfen
mir einen Blick zu, als hätte ich gerade jemanden getötet. »Tut mir leid«, sage
ich, ziehe die Handschuhe an und salutiere zackig in Yves Richtung. Er kneift
die Augen zusammen und hält einen Finger hoch. Ich
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